
Lapislazuli und zwei Meere
Seit 4 Jahren zieht uns der Salento magisch an. Zunächst faszinierte uns die Einsamkeit und das „Aus-der-Welt-Gefallene“ dieses südlichen Zipfels von Apulien. Wir entdeckten die kilometerlangen Küsten, die mit Felsplateaus zum Meer hin abfallen und an denen weit und breit kein Mensch und kein Haus zu sehen ist. Wir tauchten ein in das glasklare, lapislazuliblaue Meer und ich zumindest wurde süchtig danach. Wir kreuzten mit offenem Fenster und wehendem Haar zwischen den Meeren (wie ihr wisst, ist der Salento von zwei Meeren umgeben, dem Mare Ionico und dem Mare Adriatico) und nachdem wir lange genug gefahren waren, erstieg aus den Staubwolken eine Fata Morgana mit Claudia Cardinale, die mit ihrem unbeschreiblichen Dekolleté über die Strandpromenade stöckelte. Über die Bilder legte sich ein Filter, die ganze Landschaft schien ummantelt vom Retrocharme alter Kodachrome-Farben.

Später verliebten wir uns in die trutzburgigen Masserie, die traditionellen Bauernhäuser der Großgrundbesitzer, die überall inmitten der ausgedehnten Olivenhaine zu sehen sind: wuchtige Quader aus Stein, deren fensterlose Fassaden dazu gemacht sind, sowohl die Hitze als auch Feinde abzuwehren. Ihre schiere Größe kündet noch heute vom Reichtum, den sich der Landadel in früheren Zeiten mit Oliven- und Weinanbau erworben hatte. Auf die flachen Dächer sind steinerne Treppen gemauert, die vermeintlich funktionslos in den Himmel ragen und einem Gemälde von de Chirico entsprungen scheinen. Tatsächlich wurden die Treppen früher als Ausguck genutzt. Von oben bot sich ein weiter Blick über die Landschaft, der es den Landbesitzern ermöglichte, etwaige Räuber oder brandschatzende Feinde früh auszuspähen. Einen Schauplatz für repräsentative Auftritte boten Loggien, mit denen die prunkvollsten Masserie ausgestattet waren. Stolz und unnahbar erinnern sie an Tankredis Landsitz in „Il Gattopardo“.

Heute sind viele der Masserie Ruinen. Ihre ehemals prunkvollen Alleen aus Schirmpinien sind verwildert, an den Fassaden bröckelt der Putz und aus den eingefallenen Dächern wachsen Feigenbäume. Einige jedoch wurden von findigen Investoren für den boomenden Agrotourismus entdeckt und zu luxuriösen Wellness-Oasen ausgebaut, inklusive Swimmingpool, Weinverkostung und Seminarräumen. Mit neu eingebauten Fenstern, frischem Anstrich und dekorativ freigelegten Sandsteinquadern aus dem ortstypischen pietra leccese entsprechen diese Ressorts den Anforderungen einer zahlkräftigen Zielgruppe, die diskrete Urlaube fernab vom touristischen Rummel liebt.

Sternengewölbe
Nachdem wir sicher waren, dass unsere Verliebtheit keine Laune war, sondern wir uns mehr und mehr zuhause fühlten in diesem Landstrich zwischen zwei Meeren, suchten wir einen Ort, an dem wir uns niederlassen konnten. Und wir fanden ihn in Nardò, dieser zauberhaften Zuckerbäckerbarockstadt aus goldfarbenem Tuffstein. Dort kauften wir mitten in derAltstadt ein Haus, wobei: eigentlich handelt es sich eher um mehrere ineinander verschachtelte weißgetünchte Quader und Kuben, dazwischen ein Innenhof und Terrassen auf verschiedenen Ebenen.

Von außen sieht das Ganze nicht wirklich spektakulär aus, aber von innen verzaubert das Haus sofort. Eine Mischung aus Märchenschloss und Kirche. Die Augen müssen sich erst an das Halbdunkel gewöhnen. Der Steinboden ist angenehm kühl. Die schweren Mauern schirmen das Innere von der Hitze draussen ab. Weiß verputzte Wände öffnen sich zu orientalischen Rundbögen, dazwischen freigelegte Tuffsteinpfeiler, die sich Richtung Decke in sechs Meter hohe Sterngewölbe verwandeln, unter denen man sich fühlt wie in einem mittelalterlichen Kirchenraum. Ich lege den Blick in den Nacken und staune.
Als frischgebackene Hausbesitzer wollten wir nun natürlich alles wissen. Bei der Siesta auf der Terrasse, im Schatten unserer Zitronenbäumchen, tauchten wir ab in die Geschichten der Stadt und des Landstrichs. Nardò, ursprünglich Neretum, war eine alte römische Siedlung, später wurde sie byzantinisch, irgendwann dann normannisch – ein Wechsel von kulturellen Einflüssen, der für Apulien insgesamt charakteristisch ist.

Banken, Beach und die Mafia
Von unseren neuen italienischen Freunden erfuhren wir, dass Nardò um die Jahrhundertwende eine der Hochburgen der „Sacra Corona Unità“, der pugliesischen Mafia, gewesen ist. Strategisch günstig gelegen, befindet sich Nardò eine knappe halbe Stunde entfernt von Lecce, dem Bankenzentrum Apuliens. Mit den malerischen Badeorten Santa Maria al Bagno und Santa Caterina, die beide in ca. 10 Autominuten erreichbar sind, bildete Nardò ein perfektes Feriendomizil für die Reichen und Schönen aus der Provinzhaupstadt. Auf dem Weg zur Küste reihen sich die Villen wie Perlen an einer Kette auf: Jugendstil-Villen, Villen im maurischen Stil mit orientalischen Fenstern und Giebelchen aber auch klassizistische Trutzburgen und protzige Häuser im neofaschistischen Stil. Eine schöner als die andere. Die Villen gehörten den Bankiers oder den Mafiabossen – nicht selten verbanden sich beide Rollen in einer Person. Im Ort erzählt man sich, dass die Villen noch bis in die 1980er Jahre hinein als ein beliebter Einsatz beim Poker galten. Man traf sich abends zum Kartenspiel, ein Notar war in der Runde meistens zugegen, und im Morgengrauen kam der eine oder andere um eine Villa reicher oder ärmer zurück nach Hause.
Autofreie Altstadt
Inzwischen ist längst Ruhe eingekehrt ins kleine Städtchen Nardò. Statt dunkelgekleideter Mafiabosse promenieren Sommergäste in weißen Leinenhemden durch die Gassen; man trifft sich auf der Piazza Salandra, die ebenso wie die gesamte Altstadt seit einigen Jahren autofrei ist. Diesen Zugewinn an Lebensqualität verdankt die Stadt ihrem Bürgermeister Pippi Melone. Ja, der heißt wirklich so, kein Witz, und seine Homepage nennt er Pippi Space. 2016 wurde er mit 32 Jahren zum Bürgermeister gewählt. Schon wenige Monate später löste Pippi sein größtes Wahlversprechen ein und verbannte die Autos aus der Innenstadt. Seitdem dürfen nur noch Anwohner mit Parkausweis ins Centro Storico, alle anderen müssen vor den Stadtmauern parken.

Im Herbst 2021 wurde Pippi Mellone mit sagenhaften 74,8 % der Stimmen wiedergewählt. Wir saßen zufällig auf der Piazza Salandra, als er am Abend seines Wahlsiegs seine Dankesrede hielt. Zwar verstanden wir nicht alles, was er seinen Anhängern unter großem Beifall erzählte, aber doch so viel, dass klar wurde, was die Menschen an diesem kleinen gedrungenen Mann fasziniert. Ehemals Anhänger der inzwischen verbotenen neofaschistischen Bewegung CasaPound aber auch enger Freund von Michele Emiliano, dem Mitte-Links-Präsidenten von Apulien, wirbelt er die klassischen Unterscheidungskriterien rechter und linker Politik durcheinander. Mit einer typisch italienischen Mischung aus ultrakonservativer Volksnähe und sozialistischen Ideen packt er die Menschen mit emotionalen Botschaften. Neben Umweltschutzbelangen setzt er sich für Mindestlöhne ein, baut Spielplätze und Fahrradwege. Manchen ist das Saubermann-Image aber auch ein Dorn im Auge, ebenso wie seine Nähe zu den Ultrarechten.

Stucco und Statuen
Seinen heutigen Charme verdankt Nardò all seinen Plätzen und Palazzi mit diesen typischen süditalienischen Barockfassaden, mit Stucco und Statuen und Statuetten. Die Altstadt ist voll davon und obwohl auch hier wie in ganz Süditalien viele Gebäude leer stehen, weil die Jungen nach Norden ziehen, dorthin, wo es Arbeit gibt, bewegt sich seit einigen Jahren Einiges in der Immobilienbranche. Massimo, unser Makler, erzählt von Kreativen aus dem Ausland, die dem malerischen Charme von Nardó erlegen sind und mit Investitionen im höheren sechsstelligen Bereich verfallene Palazzi aufwändig renovieren lassen. Tatsächlich sind in den letzten Jahren viele Gebäude saniert und an Stranieri verkauft worden. Baugerüste vor alten Palazzi und frisch renovierte Fassaden künden von neuen Besitzern. Dazwischen erzählen „Da vendere“- Schilder von einem gestiegenen Kaufinteresse in der Altstadt.

Die Neuen kommen!
Die Stadt ist voll von second-home-ownern. Die meisten kommen aus Norditalien, aber auch Engländer, Belgier, Amerikaner und Deutsche lassen sich temporär oder dauerhaft nieder. Für uns Neulinge aus Deutschland bietet diese Vielfalt eine wunderbare Inspirationsquelle, zumal die Mehrzahl der „Ausländer“, „ExPats“ (ich habe noch keinen passenden Begriff für diese Zielgruppe gefunden) im Alter von ± 60 sind und wie wir an einem Entwurf für das letzte Drittel ihres Lebens basteln. Das ist eine überaus spannende Konstellation.
Einige werden jetzt sagen: na schön, aber das ist doch wie der eine Idee für diejenigen, die sich das leisten können. Stimmt nur halb. Denn wie so Vieles im Leben ist auch die Entscheidung, etwas Neues zu wagen, nicht unbedingt eine Frage der finanziellen Mittel, sondern in erster Linie eine Frage, ob man mit ±60 überhaupt noch in der Lage und willens ist, sich außerhalb der eigenen Komfortzone zu begeben, um etwas Neues auszuprobieren. Dies bedeutet nicht unbedingt, die bislang geltenden Koordinaten von beruflicher Karriere, Familie, Kindern aufzugeben. Aber es bedeutet, das eigene Koordinatensystem zu dehnen, Luft hineinzulassen, das Fenster nochmal aufzumachen, um im letzten Lebensdrittel noch einmal neu die Frage zu stellen: Wo will ich hin, was will ich sein?

Darauf gibt es (noch) keine Antworten. Vieles fühlt sich noch unbehaust an, denn es gibt keine role models. Das „alte Leben“ findet woanders statt. Hier ist Neuland, Platz zum Ausprobieren, Raum für persönliche Neuerfindung. Daraus entsteht eine flirrende Aufbruchsstimmung. Der eine iniziiert eine Schwimmgruppe, die sich 2x wöchentlich im Morgengrauen trifft, um zwei Kilometer an der ionischen Küste entlang zu kraulen, die andere restauriert alte Möbel von diversen Flohmärkten aus der Region, um sie den neuen Hausbesitzern anzubieten und die dritte inszeniert Themen-Dinner mit illustren Gästen undregionalen Produkten in ihrem airbnb auf einem umgebauten Bauernhof. Die Aktivitäten werden von Chatgroups wie „Donne di Salento“ oder „Ragazzi di Salento“ geteilt und bieten Raum für persönliche Reflexionen wie auch politische Diskussionen. Vorschläge für Konzertbesuche, Besichtigungen von Olivenöl-Produzenten, ökologische Spaziergänge oder Töpferkurse halten die Community bei möglichen Aktivitäten auf dem Laufenden.
Das Schönste an diesem Erleben, das sich manchmal anfühlt wie eine zweite Pubertät, ist, dass es nicht in einem Paralleluniversum von „Ausländern“ stattfindet, sondern eingebettet ist in den Alltag vor Ort. Nardò hat ca. 35.000 Einwohner und verfügt mit Theater, Konzertprogrammenund anderen Kulturveranstaltungen über ein reges Kulturleben. Die Nardeser sind ein stolzes Stadtvolk und anders als in anderen Urlaubsregionen bleiben „die Neuen“ nicht unter sich, sondern bilden Teil einer funktionierenden Stadtgemeinschaft. Dazu gehören die Chiacchere mit den sechs alten Nachbarsfrauen, die ihr Wohnzimmer während der Sommermonate auf die kleine Straße vor unserem Haus verlegt haben, die Besichtigung der lokalen Galerie oder der von Öko-Aktivisten iniziierte Wochenmarkt.

Ein Schwarm Schwalben zieht kreischend über die Dächer und lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Inzwischen ist es Abend geworden auf der Terrasse. Die Schatten sind an den weißen Wänden der Nachbarhauswand hinaufgeklettert und der Mistral bringt endlich Abkühlung nach einem langen, heißen Tag.
Ich werde nun in den Feierabend starten und mir einen Negroni gönnen.
Morgen oder irgendwann später erzähle ich weiter vom Salento und unseren Erlebnissen in einem der schönsten Landstriche der Welt …
Julian
23. Mai 2023 — 6:43
Complimenti! Che bella zona delle due Sicilie!
Anja
23. Mai 2023 — 13:20
Graze, Julian! Non è Sicilia però, ma il Salento 😉
Julian
23. Mai 2023 — 14:02
Lo so, ma una volta si chimava il regno delle due Sicilie… Federico II. Tanto tempo fa…
Anja
27. Mai 2023 — 18:21
Ah, ok, grazie per L’informazione, caro Giuliano! Ich erinnere mich, dass du ja auch mal länger in Italien warst, lieber Julian? Diese Geschichte von den „zwei Sizilien“ finde ich jedenfalls sehr schön 🙂