
Wie schnell sich die Fußballer auf dem Rasen bewegen! Blitzschnelle Sprints, Haken, Kurven, 180Grad Wenden in Nullkommanix, immer haarscharf am Gegner vorbei. Ich bin überhaupt keine Fußballauskennerin und schaue mir Spiele nur selten an, aber bei dieser EM sitze ich doch hin und wieder gebannt vor dem Bildschirm und bin fasziniert von der Dynamik und Geschwindigkeit der Spiele. Kommen meine alten Augen da einfach nicht mehr mit? Zum Spaß schaue ich mir im Netz Aufzeichnungen von Turnieren aus dem vorigen Jahrhundert an – wunderbar eeeennnnttttsssppppaaannneeennnddd und für dauergestresste Hochgeschwindigkeitsfetischisten unbedingt zu empfehlen!
Von den Spielen schwenke ich zu einem Bereich, in dem ich als Kulturwissenschaftlerin eher zuhause bin, nämlich zur Frage nach einem gesellschaftlichen Zeitempfinden. Alles wird immer schneller. Das ist eine Binse, ich weiß, selbst meine zwanzigplus Kinder haben inzwischen das Gefühl, dass ihnen die Zeit „davonrennt“. Der Befund ist allgegenwärtig: Menschen sind gestresst, fühlen sich ausgebrannt. Woran liegt das?

Höher, weiter, schneller
Dynamik und Geschwindigkeit waren lange Zeit ein Zeichen von Fortschritt – man denke an die ikonischen Bilder der Futuristen, die die Dynamik und Geschwindigkeit einer zunehmend technologisierten Welt feierten.
Höher, weiter, schneller hieß das Mantra der Moderne und fast immer wurde das mit Besser gleichgesetzt. Ob Auto, Flugzeug, Mikrowelle, Fahrstuhl, Rasierapparat, oder Waschmaschine – all diese Erfindungen machten uns schneller. Wir sparten Zeit und wir konnten mehr Dinge in kürzerer Zeit erledigen. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran! textet die Deutsche Welle Band Fehlfarben und hat mit dieser Liedzeile die moderne Fortschrittsideologie in Vinyl eingraviert.
Später haben Finanzmarktderegulierung, Globalisierung und Digitalisierung den Kapitalismus ins Leere beschleunigt. Inzwischen sind wir so schnell, dass wir dabei sind, uns selber zu überholen. In atemberaubender Geschwindigkeit erfinden wir Technologien, die uns das Leben erleichtern sollen, doch am Ende nur dazu führen, dass der Anspruch an das, was zu leisten ist, permanent ansteigt und immer mehr in immer kürzerer Zeit erledigt werden muss. Das ist frustrierend. Mit der Entwicklung der KI in den vergangenen zwei Jahren wurde ein Grad der Effizienzsteigerung erreicht, die alles in den Schatten stellt, was menschliche Kreativität bisher ausgemacht hat: Zeit zum Nachdenken, Reflektieren, Abwägen und Entscheiden.

Input – Output
Der Hunger nach Ruhe, nach Entschleunigung und Ent-Stressung des Alltags ist groß. Warum fällt es dann so schwer auszubrechen? Das liegt daran, dass es dafür keine Währung gibt. Die Logik des Kapitalismus bemisst sich nach Input und Output. Ich investiere soundsoviel Zeit, Geld, Ressourcen und bekomme dafür einen Gegenwert zurück. Aber in dem Moment, wo in immer kürzerer Zeit mit immer weniger Aufwand immer mehr produziert werden kann, schrumpft der Gegenwert (Output). Wir werden nicht mehr angemessen „entlohnt“ für das, was wir reingeben in die Maschine.
Um Missverständnissen vorzubeugen: ich bin keine Kulturpessimistin. Im Gegenteil, als Autorin liebe ich es, neue Software auszuprobieren, mit der ich meine Texte besser machen kann. Als Gestalterin profitiere ich von bilderzeugenden KIs wie Midjourney, Dall-E oder Nightcafe, die mir zu von mir zuvor eingegebenen Prompts passende Bilder erzeugen.* Aber – und darauf kommt es mir an – der Gegenwert stimmt nicht mehr, denn parallel zu den neuen und allgemein verfügbaren technologischen Errungenschaften steigt auch der Anspruch an die eingebrachte individuelle Leistung. Im Klartext: Wenn alle die KIs nutzen können, dann muss der Einzelne einen Mehrwert erzeugen, der als kreative Leistung über das, was mit der Intelligenz der Maschinen machbar ist, hinausgeht. Höher, weiter, schneller. Ein Hamsterrad der Beschleunigung.

Rasender Stillstand
Wir sind in einer Zeit der „beschleunigten Beschleunigung“, angekommen, wie der Soziologe Hartmut Rosa treffend formuliert. Dabei geht es nicht mehr darum, fleißiger zu sein oder Dinge besser zu machen als früher, sondern darum, den Status quo beizubehalten. Wir müssen jedes Jahr einen Zahn zulegen, damit alles so bleiben kann wie es ist.
Ich frage mich, ob diese andauernde Beschleunigung des Lebens (die, so mein Eindruck, nach der Zwangs-Entschleunigung durch Corona noch zugenommen hat) nicht irgendwann in ihr Gegenteil umschlägt. Dass also die Dynamisierung des Alltags zu einem rasenden Stillstand führt, in dem nicht nur der sogenannte Fortschritt implodiert (definiere Fortschritt in einer Zeit, in der die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten quasi in Lichtgeschwindigkeit zerstört werden), sondern auch das Individuum immer weniger dazu in der Lage ist, mit den ständig wachsenden Anforderungen klarzukommen. In dem Maße, in dem der Energieaufwand für jede einzelne steigt und gleichzeitig das, was zurückkommt, kontinuierlich sinkt, wächst die Erschöpfung.
Burn-out, Tinnitus, Herzrasen, Chronic Fatigue Syndrome – die Symptome der Überforderung sind allgegenwärtig. Und obwohl parallel dazu das Angebot an Self-Care-Apps, Pilates und anderen Wellnessprogrammen ständig anwächst, fühlen wir uns ausgelaugt. Die Energiebilanz stimmt nicht mehr. Unsere Akkus laden sich nicht mehr richtig auf.
Soziale Energie
Hier wirft der Soziologe Hartmut Rosa – aus meiner Sicht einer der besten Zeit-Diagnostiker – den Begriff „soziale Energie“ ins Rennen:
„Wir können uns Energie nur in Input-Output-Relationen vorstellen und fragen daher stets: Was stecke ich hinein, an Aufwand, Zeit, Kraft – eben: Energie? Und was kriege ich heraus? Lohnt es sich? Was wir aber brauchen, ist eine Konzeption zirkulierender sozialer Energie.“
Soziale Energie definiert Rosa als partizipatives Geschehen, bei dem Geben und Empfangen zusammenfallen. Der subjektive Wert liegt jenseits von Input und Output im Geschehen selbst. Ich verausgabe mich z.B. in der Erziehung meiner Kinder, in einer ehrenamtlichen Initiative auf einem Weinberg oder in einem Kreativ-Projekt. Für all das wende ich sehr gerne sehr viel Zeit auf, ohne mir dessen bewusst zu sein. Obwohl ich für dieses Zeit-Engagement keinen ökonomisch messbaren Gegenwert bekomme, erfüllt es mich mit Energie. Das Tun lädt mich auf. Geben und Nehmen fallen zusammen. Ich bekomme Energie durch das Tun selbst. Die Psychologie kennt dafür den Begriff „Flow“ und meint damit das völlig Aufgehen in einer momentanen Tätigkeit. Es geht nicht um mich, sondern ich bin Teil von etwas. Fast überflüssig zu erwähnen, dass in diesem Gefühl des Eins-Seins mit der Welt auch die Zeit keine Rolle mehr spielt.

Klar ist, dass es für soziale Energie derzeit weder auf dem Fußballplatz noch auf dem gesellschaftlichen Rasen Raum gibt. Nicht Innehalten und Sinngebung sind in der heißdrehenden Erschöpfungsgesellschaft das Ziel, sondern Optimierung und Output. Deshalb müssen Fußballspieler wie gesellschaftliche Akteure im energetischen Höchsteinsatz immer schneller, höher, weiter spielen, um einen Gegenwert für ihre Leistung zu bekommen. Eine paradoxe Konsequenz dieser Logik ist der Videobeweis bei Fußballspielen. Was der Schiedsrichter mit bloßem Auge nicht mehr erkennen kann, soll der Video-Assistent richten, der fernab vom Spielfeld Aktionen in Zeitlupe auswertet und gegebenenfalls die Entscheidung des Schiedsrichters auf dem Platz korrigiert. Die Dynamik des Spiels wird ausgebremst und im Zweifelsfall konterkariert durch eine erzwungene Langsamkeit. Am Ende ist es die Technologie, die den spielerischen Output bewertet. Ein Nullsummenspiel im rasenden Stillstand.

*Außer dem Screenshot von der WM 1970 sowie dem Gemälde von Giacomo Balla wurden alle Bilder mit der KI „Nightcafe“ generiert.