Honig aus Unkraut

Das wilde Leben der Patience Gray

Patience Gray, 1990er Jahre Foto: Doris Schiuma©

Immer, wenn ich im Salento bin, koche ich irgendwann „Cime di Rapa“. Das ist ein typisches Gericht der Region mit grünem Stängelkohl – eine Art Broccoli – sowie Sardellen, zermahlenen Taralli – Knabbergebäck aus Apulien – und, natürlich, Orecchiette, diesen Nudeln aus Bari, die wie kleine Öhrchen geformt sind. Und jedesmal wenn ich dann vor meinen Kochtöpfen stehe, muss ich an Patience Gray denken, diese englische Journalistin und Autorin, die zusammen mit ihrem Mann, einem britischen Bildhauer, 35 Jahre lang im tiefsten Süden des Salento auf einer einsamen Farm ohne Strom und fließendes Wasser gelebt hat.

Noch immer kennt man sie kaum, dabei ist das Leben der 2005 im Alter von 88 Jahren gestorbenen Patience Gray schwindelerregend aufregend gewesen. Sie war Reisende, Kulturforscherin, Naturforscherin, Schriftstellerin, Kochbuchautorin. Lebenskünstlerin klingt zu abgedroschen, dafür war Patience auch zu ernsthaft. Allein schon der Name – Patience! Geduld, Beharrlichkeit und Gelassenheit sind tatsächlich Attribute, die einem in den Sinn kommen, wenn man die spärlichen biografischen Notizen zu der 1917 geborenen Engländerin liest. Dinge, die sie interessierten, machte sie intensiv. Mit zwanzig arbeitete sie für den Arts Council, hatte dort eine Affäre mit einem verheirateten Mann und bekam von ihm zwei Kinder, die sie alleine großzog. Als Alleinerziehende hielt sie sich mit diversen Schreibaufgaben und Redakteursjobs über Wasser. 1957 schrieb sie mit Plats du Jour ein erfolgreiches Kochbuch, das den englischen Hausfrauen einfache Rezepte und kulinarische Traditionen aus fremden Ländern vorstellte – was für damalige Zeiten einigermaßen ungewöhnlich war. 1958 wurde sie die erste Redakteurin der neu eingeführten Frauenseite bei der bekannten Zeitschrift Observer. Lange bevor Interdisziplinarität zum überstrapazierten Modewort verkam, schrieb sie dort vier Jahre lang über Kunst, Küche, Kochen, Natur, Ästhetik und Design. Als sie 1962 einen neuen Vorgesetzten bekam, der ihr nahelegte, doch mehr über Mode und Shopping zu schreiben, kündigte sie. Für einen Freigeist wie Patience war die Reduktion auf sogenannte Frauenthemen inakzeptabel.

Norman Mommens und Patience Gray                        Foto: Francesco Radino@

Mit Mitte vierzig lernt sie schließlich den Bildhauer Norman Mommens kennen. Gemeinsam verlassen sie England und erkunden in den folgenden Jahren das Mittelmeer. Ihre Reiseroute folgte der „Spur des Marmors“ und sollte den „Hunger nach Stein“ ihres Bildhauer-Gefährten stillen. Die beiden Liebenden reisten nach Spanien, Katalonien, die Kykladen (Naxos), Carrara und dann den gesamten italienischen Stiefel hinunter, bis sie schließlich 1970 am südlichsten Zipfel Apuliens eine leerstehende und halbzerfallene Farm fanden und sich dort niederließen.

Masseria Spigolizzi, Küche und Studio

Während Norman an seinen Skulpturen arbeitet und das alte Bauernhaus nach und nach mit Fresken, Installationen und Statuen in ein Gesamtkunstwerk verwandelt, erforscht Patience die umliegende Natur. In der Ruhe der mediterranen Landschaft mit sanft abfallenden Hügeln zum türkisblauen Meer experimentiert sie mit wilden Kräutern und Pflanzen. Zwischen jahrhundertealten Olivenbäumen und Ginsterstauden entdeckt sie wilden Spargel und Thymian, Fenchel und Malve und allerlei andere nährstoffreiche Gewächse.

Doch Patience Gray war weit mehr als eine Kräuterhexe. Sie entlockt den Bauern aus der Umgebung traditionelle Rezepte und lernt die Kultur einer Region kennen, die damals, in den 1970 und 1980er Jahren noch tief in einer archaischen Agrargesellschaft verwurzelt war. Kulinarische Gebräuche und kulturelle Riten, Geschmack und soziale Verhaltensweisen, Kleidungsstile und Wohnungseinrichtungen: alles hängt irgendwie miteinander zusammen und Patience entdeckt die verborgenen Zusammenhänge, knüpft Verbindungen und verwebt die Fäden zu Geschichten.

Aus der jahrzehntelangen Hingabe an das Land und die Leute entsteht schließlich ihr bekanntestes Buch mit dem wunderbaren Titel Honey from a Weed (1986), ein großartiges Nicht-nur-Kochbuch, das Rezepte mit kulinarischen Gebräuchen und Kulturgeschichten verbindet. Der Untertitel Fasting and Feasting in Tuscany, Catalonia, The Cyclades and Apulia verweist auf die Herkunftsorte der Rezepte und setzt zugleich den philosophischen Ton, der den Ritus des Fastens und die gesellige Feier mit den Lebenszyklen der Bauerngemeinschaften in Beziehung setzt. Erst das durch die Knappheit der Ressourcen im Winter auferlegte Fasten ermöglicht es, den Überfluss und die Fülle der Gaben zu schätzen, welche die Natur in den Sommermonaten bereithält. Knappheit und Überfluss, Darben und Feiern gehören zusammen – auch das ist eine Botschaft, die Patience Gray zu einer Vordenkerin aktueller Bewegungen wie SlowFood oder Essbare Landschaften macht.  

Norman Mommens und Patience Gray im Garten der Masseria Spigolizzi, Ende 1990er Jahre.                  Foto: Grace diNapoli©

Eine Kuriosität des inzwischen zum Klassiker mutierten Werks ist es, dass Patience Gray bereits zu Lebzeiten verfügt hat, dass Honey from a Weed niemals in italienischer Übersetzung publiziert werden dürfe. Ihre Begründung: in Italien wisse man ohnehin wie gute Küche funktioniere und die Italiener bräuchten ihr Buch deshalb nicht. Wohl daran mag es liegen, dass Patience Gray in Italien bis heute kaum bekannt ist. Neulich habe ich einen angesagten Foodblogger aus dem Salento nach Gray gefragt – er kannte weder die Frau, noch ihr Buch.

In den USA und England ist sie allerdings spätestens mit der Biografie von Adam Federman ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Erschienen 2017, zum 100. Geburtstag, stieg das Buch schnell in die Bestsellerliste auf und landete auf der Top-100-Liste der empfohlenen Bücher der New York Times. Leider gibt es die rund 400 Seiten noch immer nicht auf Deutsch, aber inzwischen wenigstens als Paperback. Absolut lohnenswert für Koch- und Kulturliebhaber – und für Liebhaber faszinierender Frauen!

Quellen:

Adam Federman: Fasting and Feasting. The Life of Visionary Food Writer Patience Gray, Vermont 2017

Martina Strazzari: L’eredità di Patience Gray e Norman Mommens nella masseria di Spigolizzi

Edward Behr: Patience Gray. Appreciating one of the Finest of all Writers about Food

Aldo Magagnino: Patience, la visionaria che amó il Salento rurale

Aldo Magagnino: The English on the Hill

Russ Parsons: The Importance of Patience Gray

Rachel Cooke: Patience Gray. The wild, wild life of the cult food writer

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