60 werden

Die 60 begleitet mich seit Monaten wie ein langer Schatten. Erst ging er mir voraus, nun, da mein Geburtstag hinter mir liegt, sitzt er mir im Nacken. Mein Alter ist überpräsent. Wie auf diesen niederländischen Vanitasbildern, wo stetig Sand durch ein Stundenglas rinnt und das Glas immer halb voll ist – oder halb leer, je nachdem. Die Szenerie ist symbolisch düster, schwer hat sich Patina über die Dinge gelegt. Aber der Lichtreflex auf dem Glas blendet, das Messing schimmert und das Quietschgelb der Zitronen zaubert Leben ins Bild. Es leben die Widersprüche!

Willem Claesz. Heda, Stilleben mit Glas und Becher, 1632

60 = Patina und Lichtreflexe

60 ist eine echte Ansage. Es klingt sehr real nach Alter und doch irgendwie surreal, weit weg vom persönlichen Lebensgefühl. Sechzig werden doch eigentlich nur die anderen, oder? Jedenfalls bringe ich diese Zahl mit mir selbst nicht in Einklang. Ich bin nicht im Reinen mit der sechzig. Noch nicht.

Auch bei der 50 habe ich schon etwas gezuckt, weshalb ich damals für ein Wochenende allein an die Ostsee gefahren bin. Ich wollte Abstand gewinnen und das halbe Jahrhundert mit langen Spaziergängen am Strand langsam auf mich zurollen lassen. Vom Horizont drang ein dumpfes Grollen herüber, aber die Lage blieb insgesamt friedlich. Alles kein Problem.

Träume träumen? Machen!

Die 60 ist anders. Nun lässt sich endgültig nicht mehr bestreiten, dass das Ende näher ist als der Anfang. Nicht nur die Haare werden dünner, das Älterwerden führt auch zu einem Ausdünnen der Perspektiven. Langsam aber sicher werden die Wahlmöglichkeiten geringer. Wieviel Zeit habe ich noch? Von welchen Träumen verabschiede ich mich, und welche sind es wert, weitergeträumt und am Ende doch noch realisiert zu werden? Während ich in jungen Jahren (dass ich diese Formulierung irgendwann einmal verwenden würde, hätte ich auch nicht gedacht) all die noch unverwirklichten Möglichkeiten in einen offenen und sich weit ausbreitenden Zukunftsraum projizieren konnte, denke ich nun das Leben vom Ende her. Die Aussicht wird begrenzter, der Fluchtpunkt ist gesetzt und so lege ich den Fokus auf das, was mir wichtig ist. Kompromisse spielen dabei viel weniger eine Rolle als früher.

Diese Erfahrung der eigenen Endlichkeit hat etwas durchaus Kraftvolles. Wann dann, wenn nicht jetzt? lautet die Devise, die ein Schauern mit sich bringt, das mal pathetischer und mal pragmatischer daherkommt (gibt es ein pragmatisches Erschauern?)

60 ist das neue 50? Bullshit!

Viele sagen, ach komm‘, alles halb so wild, 60 ist die neue 50. Klar, kann man so sehen, genauso wie alle 40-Jährigen die neue 30 feiern und die 50-Jährigen die neue 40. Tatsächlich gelten die 60-Jährigen von heute als fit und erfahrungshungrig. Nach Kindergroßziehen, Hypothekenabzahlen und Karriereverfolgen gibt es endlich Zeit, um kostbare Freiheiten zu erkunden. Einerseits.

Andererseits zeigt einem der Körper nun durchaus schon manchmal seine Grenzen auf. Ob Konzentrationsfähigkeit, Hautdichte, dünner werdendes Haar oder diese komischen dunklen Pigmentveränderungen auf den Handrücken, die man zunächst nachsichtig lächelnd als Sommersprossen abtut, bevor der dritte Winter schließlich klarmacht, dass Sonnenlicht mit diesen dunklen Hautstellen leider gar nichts zu tun hat: Der Körper lässt die eigene Endlichkeit spürbar werden.  Nach 10 km Laufen spüre ich seit Neuestem so einen merkwürdigen Schmerz in der Hüfte, als ob sich das Gelenk verkanntet hätte. Morgens im Badezimmer bin ich bisweilen schockiert von meinem Spiegelbild, das aussieht, als ob in der Nacht ganz unbemerkt ein Sattelschlepper quer darüber hinweggebrettert wäre. Und der Hangover nach einer zu langen Party dauert inzwischen zwei Tage, was dazu führt, dass ich meinen persönlichen Hedonismus mit der Restmenge an Energie gegenrechne und schließlich zum Ergebnis komme: lohnt sich nicht.

Altersweitsicht sticht Altersweisheit

Ganz leise noch, aber die Abwärtsbewegung ist spürbar, man wird weniger. Das ist überhaupt vielleicht der größte Unterschied zu „früher“ (aka 50), wo man, trotz des halben Jahrhunderts, noch den Eindruck haben konnte, dass die Dinge sich die Waage halten. Die Kinder werden groß, im Beruf macht die Souveränität Spaß, die im Lauf der Jahre durch Erfahrung dazugekommen ist. Man fühlt sich reif und manchmal sogar schon ein bisschen weise. Mit sechzig sieht die Sache anders aus: statt mit der eigenen Altersweisheit zu kokettieren, lugt graufaltig das Rentenalter um die Ecke. Im eigenen Freundes- und Familienkreis mehren sich die Krankheitsfälle, Beerdigungen werden Teil des eigenen Alltags. Ein Freund von mir ist neulich gestürzt und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen. Vor zehn oder gar zwanzig Jahren hätten wir kurz „Autsch“ gesagt und wären dann weitergelaufen. Auf den Freund warteten Krankenhaus, künstliche Hüfte und sechs Wochen Reha.

Das Leben als Boomerin

Die eigentliche Herausforderung besteht jedoch nicht unbedingt im Aushalten der individuellen Zipperlein. Gravierender sind die gesellschaftlichen Bilder, die wir alle mit uns herumschleppen. Wir leben in einer Kultur, die Jugend feiert und die Alten ins Pflegeheim abschiebt. Älterwerden ist gerade noch ok. Man befindet sich in einem Prozess hin zu etwas – wohin genau, will man gar nicht unbedingt wissen. Alt sein hingegen will niemand. Allen Werbebotschaften zum Trotz ist Altsein kein positiver Wert. Zwar wird die Erfahrung der Älteren beschworen, doch wer sich mit Ende Fünfzig noch auf den Arbeitsmarkt begibt, erlebt, dass die Chancen trotz grassierendem Fachkräftemangel und der dauernden Rede von Diversität in Teams eher mäßig sind.

Dass ich als 1964 geborene den geburtenstärksten Jahrgang der Boomer-Generation repräsentiere, macht es auch nicht unbedingt leichter. Ich bin immer schon wahnsinnig viele und als Repräsentantin der Boomer zähle ich bei allen Menschen unter 45 ohnehin zum alten Eisen. Da können die Jobbörsen und das Recruiting Marketing noch so vollmundig die Erfahrungen „der Älteren“ anpreisen und die Werbeagenturen die „Silver Ager“ als gesunde, einkommensstarke Zielgruppe für ihre Kunden entdecken:  Die Boomer sind potenziell diejenigen, die die Digitalisierung verschlafen haben und nur an sich und ihre kleinkarierte Wanderkleidung für den nächsten Trecking Urlaub denken.

„Männer reifen – Frauen verblühen“

Inzwischen habe ich mich in meinem mittelalten Mittelklasse-Körper ganz gut eingeruckelt. Trotzdem behaupte ich, dass 60 für Frauen rauher ist als für Männer. „Männer reifen – Frauen verblühen“ lautet ein dummer Spruch, der in seiner misogynen Fiesheit die gesellschaftlichen Unterschiede in der Alterswahrnehmung auf den Punkt bringt.

Freundinnen berichten von der Erfahrung des „Unsichtbarwerdens“ im öffentlichen Raum: In den meisten Fällen kann eine Frau heutzutage mit Ende fünfzig völlig unbehelligt eine Straße entlang gehen, ohne dass Männer ihr hinterherschauen. Das bedeutet zwar eine große Freiheit, aber auch für die meisten Frauen – mich eingeschlossen – durchaus eine Verlusterfahrung. Jede, die die vergangenen fünfzig Jahre Feminismus nicht völlig verschlafen hat, erkennt hier das Konzept des „männlichen Blicks“ wieder, das in den 1980er Jahren in jedem ordentlichen feministischen Theorieseminar durchdekliniert und kritisch hinterfragt wurde. Das Verrückte ist, dass in dem Moment, in dem der „male gaze“ nicht mehr auf uns fällt, offenbar auch die Wirkmacht dieses Blicks verlorengeht: Wir erleben uns als weniger begehrenswert, weniger weiblich, weniger attraktiv.

Diesen schleichenden Aufmerksamkeitsverlust erlebe ich durchaus schmerzlich. Und zwar nicht, weil ich die männlichen Blicke vermisse (eher das Gegenteil ist der Fall), sondern weil mir damit die Währung abhanden kommt, mit der ich meine Attraktivität messen kann. Auf einmal stehe ich mit meinem alternden Körper alleine da.

Sicher spielen auch biologische Faktoren eine Rolle. Während Männer auch mit 80 noch Kinder kriegen können, haben Frauen mit 60 die Menopause meistens hinter sich und sind damit, zumindest biologisch, eigentlich überflüssig. Anders als Männer haben Frauen ein einprogrammiertes Haltbarkeitsdatum. Mit dem sinkenden Östrogenspiegel nimmt auch die Libido stetig ab. Netflixserien gucken wird attraktiver als wilde Sexspiele.

Sweet Sixty

Um Missverständnissen vorzubeugen: 60 werden ist kein Drama. Es ist eher wie ein leises Anklopfen bei sich selbst: Hallo, wo bist du? Wo willst du in deinem dritten Lebensdrittel hin, und wer willst du sein?

Seit meinem Geburtstag sind drei Wochen vergangen. Ich sitze im Salento in einer phantastischen Frühlingskulisse, pflanze Orangenbäume, düse mit der Vespa umher, probiere Fischrezepte aus; ich schreibe und organisiere „Workshops di Artigianato“ mit meinen Freundinnen im Kreis der „Donne di Salento“. Vielleicht geht es am Ende ja genau darum: Ein neues Kapitel aufschlagen. Sich lösen von Mustern und Erwartungen. Gegenwärtig sein. Und: Falten schön finden – nicht nur bei Georgia O’Keeffe.

Georgia O’Keeffe, 1887–1986
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