Wenn ich mittags essen gehe, muss ich neuerdings immer einen Anmeldezettel ausfüllen. Der sieht z.B. so aus:
Darin muss ich meinen Namen, meine Anschrift und meine Telefonnummer eintragen. Also so ziemlich alles, was man so als “privat” bezeichnen würde. Wenn noch nach politischer Gesinnung oder sexueller Orientierung gefragt würde, wäre das durchleuchtete Profil komplett. Dieses Formular muss ich jedesmal ausfüllen. Selbst wenn ich gestern und vorgestern und seit Jahren nahezu täglich dort zur Pause gehe. Erforderlich ist dies, weil Restaurants verpflichtet sind, Gästedaten zu sammeln, damit im Infektionsfall das Gesundheitsamt Kontakte nachverfolgen kann. Klingt umständlich, ist es auch.
Aber: Gibt es dafür nicht ‘ne app? Ja, klar! Enter: Corona-Warn-App.
Seit vergangener Woche ist sie in Deutschland verfügbar. Wie sie technisch funktioniert, ist ausführlich in allen Medien berichtet worden. Letztendlich macht sie nichts anderes als der Anmeldezettel im Restaurant: Sie soll die nachträgliche Kontaktverfolgung ermöglichen.
Erstaunlich ist zu beobachten wie alle Berichterstatter, Journalisten, Tech-Nerds, Politiker aller Parteien und politischen Richtungen dafür werben, diese App zu installieren. Ergibt bestimmt Sinn und es gibt sicher viele Gründe das zu tun. Mich interessiert allerdings etwas anderes: nämlich wie diese App überhaupt entstanden ist. Und das komplette Versagen der nationalen, demokratischen Institutionen, die eigentlich für unsere Gesundheit zuständig sind.
Was bisher geschah
Gehen wir zurück, Anfang März. In China und Süd-Ost-Asien grassierte Covid-19 und Europa wähnte sich noch als Zuschauer einer “asiatischen Grippe”. In China wurden Millionenstädte, Flughäfen und Bahnhöfe geschlossen, das gesamte soziale Leben unterbunden. Mit ungläubigen Augen nahmen wir die Bilder wahr: bei uns wäre so etwas nie möglich! Dann kamen die Bilder von Särgen aus Bergamo und plötzlich war die Pandemie vor der Haustür. Auf einmal gab es den Blick zurück nach Taiwan, Südkorea, Singapur und Hongkong. Was die gemacht haben – wäre das vielleicht ein Lösungsweg? Wie sind diejenigen, die ja schon Erfahrung mit Sars hatten, mit der Seuche umgegangen? Wie haben sie es geschafft, die Epidemie einzuhegen?
Tolle Idee?
Es gab eine Komplettüberwachung der Infizierten: wer ein Problemfall war (und das waren z.B. auch alle Einreisenden), bekam zwangsweise eine App installiert und wurde für zwei Wochen in Quarantäne geschickt. Jeglicher Kontakt nach außen war verboten. Die GPS-Funktion des Telefons musste Tag und Nacht eingeschaltet bleiben, damit der jeweilige persönliche Betreuer jederzeit wusste, wo man sich aufhielt (nämlich nur in den eigenen vier Wänden). Wenn der Akku aus Versehen leer war, klingelte es keine 10 Minuten später, da das GPS-Signal weg war. Alle Nutzer der App konnten in Echtzeit immer alle derzeitigen akuten Corona-Fälle auf einer Karten nachverfolgen, und damit diese Gebiete meiden.
Klingt gruselig? Für europäische Verhältnisse schon. Allerdings haben dadurch Hongkong, Singapore oder Taiwan so wenig Todesfälle wie kaum andere Länder, sie hatten keinen wirtschaftlichen Lockdown und sind in kürzester Zeit fast wieder auf demselben Stand wie vor der Pandemie.
Derweil hier bei uns
Deutschland (März 2020): Unser Gesundheitsminister Jens Spahn hat die Idee, dass es auch in Deutschland eine solche App geben sollte. Allerdings die europäische Version, also mit viel Privatsphäre und Datenschutz und so. Das Robert-Koch-Institut (RKI), die nationale Gesundheitsbehörde zur Krankheitsüberwachung, beauftragte das Fraunhofer Institut HHI eine solche App zu erstellen. Nach wenigen Wochen, Mitte April, war die App in Rekordzeit fertig: Unter großem Einsatz haben sich alle europäischen Gesundheitsbehörden in einer bis dahin nicht vorstellbaren Einheit verständigt: Wir brauchen eine europäische Lösung! Unter der Mitarbeit von verschiedenen europäischen Gesundheitsbehörden und wissenschaftlichen Einrichtungen war innerhalb kürzester Zeit das Softwaregerüst PEPP-PT fertig gestellt. Es sollte ein Wettbewerb der individuellen noch zu entwickelnden Apps werden, denn die Daten wären immer nur an und über die jeweilige nationale Gesundheitsbehörde ausgetauscht worden. Klingt erst mal gut, allerdings kommt jetzt die Sache mit dem Teufel und dem Detail.
Der Teufel und das Detail
Bei diesem fertiggestellten (!) europaweiten Softwaregerüst konkurrierten zwei Lösungsansätze, die in der Folge erbitterte Diskussionen auslösten, die zum großen Teil vor allem ideologisch und ohne technisches Wissen geführt wurden. Die eine Lösung wurde bekannt und dem Namen “zentraler Server” und als Abgrenzung die zweite als “dezentraler Server”. (Übrigens bis heute hält sich diese falsche Bezeichnung!) Allein diese Unterscheidung offenbart schon das gefährliche Halbwissen, denn beide Lösungen funktionieren nur mit einem zentralen Server. (Deswegen stimmt die Bezeichnung “dezentrale Lösung” auch heute immer noch nicht.) Aber “dezentrale Speicherung” hört sich einfach viel vertrauensvoller an.
Beide Lösungen funktionieren technisch fast gleich. Bei der „zentralen“ Lösung werden alle Kontaktdaten anonymisiert hochgeladen, während bei der „dezentralen“ Lösung die Daten anonymisiert erst auf dem Telefon ausgewertet werden. Klingt kompliziert. Ist es aber nicht wirklich. Anonym sind beide Ansätze.
Das GDD
Noch während die Diskussion zwischen Datenschützern, Gesundheitsbehörden und Politik große und erbitterte Diskussionen veranlasste, schlug das “Große Deutsche Defizit” (GDD) zu. Sie hatten die Diskussion ohne jegliches digitales Verständnis geführt, mit einer Hybris aus Nichtwissen und (schlimmer noch!) Halbwissen. Denn um ein medizinisches Problem, und das ist Covid-19, mit einer technischen Lösung anzugehen, benötigt man das entsprechende digitale Know How. Und dieses Defizit wurde bei der Corona-Warn-App exemplarisch vorgeführt.
Mitten in die Diskussion, als alle europäischen Gesundheitsbehörden und universitären Einrichtungen sich einig waren, dass sie Privatsphäre und epidemiologische Anforderungen unter einen Hut gebracht haben, melden sich Mami und Papi: Apple und Google.
Mami und Papi kümmern sich schon
Sie verkündeten trocken, dass sie beschlossen haben, dass im Sinne der Datensicherheit sie nur für die 2. Lösung die Schnittstelle in ihrem Betriebssystem bereitstellen würden. Von einem Tag auf den anderen waren die Diskussionen beendet. Google (Android) und Apple (iPhone) haben gemeinsam beschlossen wie die Corona-App umgesetzt wird. Außerdem haben sie an der Stelle auch gleichzeitig verfügt, dass in jedem Land nur 1 App zugelassen würde, und zwar die von der nationalen Gesundheitsbehörde. Sollte es dabei Streitigkeiten geben, würden sie (Google und Apple) beschließen, wessen App zugelassen würde.
Nochmal: Google und Apple entscheiden nicht nur wie eine App funktionieren solll, sondern auch welche Institutionen berechtigt sind, eine App zu veröffentlichen!
Daraufhin verstummte die Diskussion und (fast) alle europäischen Gesundheitsbehörden haben dem zugestimmt. Die PEPP-PT wurde in die Tonne gekloppt, und zwei Monate später ist sie nun veröffentlicht worden: so wie Google und Apple das verfügt haben. Mittlerweile hat z.B. nach monatelangem Widerstand Großbritannien seine ursprünglich entworfene App an die Vorgaben von Google und Apple angepasst.
Unabhängig davon, wie sinnvoll oder zielführend diese App sein kann oder wird, es zeigt den wundesten Punkt unserer europäischen Hybris auf, der künftig eine noch eine viel größere Rolle spielen wird. Wenn wir künftige Alltags-Probleme lösen wollen sind wir auf entsprechende Technologien angewiesen. Diese sind derzeit – und auf absehbare Zeit – in der Hand von supranationalen Konzernen, die mittlerweile originär nationale Aufgaben übernehmen. Bei Apple und Google kann man an dieser Stelle ein gemeinsames, übergeordnetes Interesse unterstellen: Sie kümmern sich um Datensicherheit und damit einen Bereich, der bislang – zumindest in Europa – staatlichen Institutionen vorbehalten war. Vor allem in einem so sensiblen Thema wie der Gesundheitsversorgung. Natürlich kümmern sich Google und Apple damit einhergehend auch darum, dass für eine solche App weltweit Akzeptanz geschaffen wird.
Nur, was bedeutet das auf lange Sicht? Dass internationale digitale Großkonzerne politische Entscheidungen treffen?
Daran denke ich, wenn ich genervt bin, wenn ich wieder und wieder die Anmeldezettel um die Ecke ausfüllen muss.