Charlotte Perriand, 1991

Das Corona-Virus hat auch seine guten Seiten – zum Beispiel kommt man beim zwangsverordneten Rückzug ins Häusliche endlich wieder mehr zum Lesen!

Mit diesem Text möchte ich euch unbedingt ein Bilder-Buch, aka „Graphic Novel“, ans Herz legen: „Charlotte Perriand. Une architecte française au Japon 1940-42“.

Das Buch ist bislang leider nur in einer französischen Auflage erschienen, aber mit einem Rest Schulfranzösisch durchaus zu bewältigen. Außerdem geht es ja vor allem ums Schauen, vieles erschließt sich zwischen den Zeilen (und für den Rest gibt es google translate).

Wer das Buch nicht lesen kann/will, hat hoffentlich Spaß an folgendem Beitrag!

Das Bilder-Buch

Ich bin eigentlich keine Comic-Leserin. Das merkt man schon daran, dass ich den Unterschied zwischen Comic und Graphic Novel nicht kenne. Neulich las ich jedenfalls meine erste Graphic Novel, wobei „lesen“ die Sache nicht ganz trifft, denn mit ihren kunstvollen Zeichnungen verführen Graphic Novels in erster Linie zum Schauen. Besonders gelungen ist diese Mischung aus Kunst und Content in „Charlotte Perriand. Une architecte française au Japon 1940-42“ aus der Feder des französischen Comiczeichners Charles Berberian. Hinter dem etwas spröden Titel verbirgt sich eine faszinierende und unglaublich schön gezeichnete Geschichte.

Für Ahnungslose wie mich: Charlotte Perriand (1903-1999) war eine der wichtigsten Möbeldesignerinnen des 20. Jahrhunderts. Wer auch nur kurz recherchiert, stößt auf eine Reihe von Möbeln und Inneneinrichtungen, die jedem geläufig sind, der sich auch nur ein klitzekleines bisschen mit Designgeschichte auskennt.

Allen voran die Chaiselongue B306 von 1928/29:

Charlotte Perriand auf der von ihr entworfenen Chaiselongue B306

Charlotte .... what?

Wie gesagt, die Möbel kennt (fast) jede – allerdings nicht unbedingt unter dem Namen ihrer Urheberin. Bis vor kurzem wurden diese Design-Ikonen nämlich den großen Männern der modernen Design-Geschichte zugeschrieben. Allen voran LeCorbusier, in dessen Pariser Studio Charlotte Perriand zwischen 1927 und 1937 gearbeitet hat. Der Architekt war auf die junge Designerin durch ihre „Bar unterm Dach“ aufmerksam geworden, die die Studentin ursprünglich für ihr eigenes Apartment entworfen hatte und dann auf dem Pariser Herbstsalon 1927 ausstellte. Umgeben von der gefälligen Eleganz des Art Déco, muss die coole Konstruktion aus Kupfer, eloxiertem Aluminium & Glas damals wie die vom Himmel gefallene Lounge eines intergalaktischen Raumschiffs gewirkt haben. Jedenfalls sorgte Charlottes Bar ordentlich für Furore und hinterließ offenbar auch bei LeCorbusier Eindruck, der darin wahrscheinlich eine Art Seelenverwandtschaft zu seiner funktionalistischen Ästhetik entdeckte und die junge Designerin kurzerhand einstellte. In der zehn Jahre dauernden Zusammenarbeit mit dem mâitre entwirft Charlotte Perriand Möbel und Ausstattung für seine architektonischen Entwürfe; sie übersetzt seine Ideen, entwirft Prototypen und experimentiert mit neuartigen Materialien und industriellen Konstruktionsformen. Obwohl ihre Möbeldesigns dem Atelier zu beträchtlichem kommerziellen Erfolg verhelfen, bleibt Charlotte Perriand als Co-Designerin in der Arbeitsgemeinschaft mit zwei Männern (neben LeCorbusier war dort auch dessen Cousin Pierre Jeanneret tätig) immer im Schatten. 1937 beendet Perriand die Zusammenarbeit schließlich, um unter eigenem Namen zu arbeiten.

Die Reise nach Japan

1940 unternimmt Perriand eine zweijährige Reise nach Japan. Auf Einladung der japanischen Industrie- und Handelskammer soll sie als Design-Beraterin in Tokyo die Entwicklung neuer Produkte für den westlichen Markt unterstützen.

Mit dieser Reise startet die Graphic Novel. Die ersten Bilder zeigen Perriand auf der Kakusan Maru, dem Schiff, das sie nach Japan bringen wird. Man sieht sie in ihrer Kabine vertieft in ein Buch über die japanische Teekultur, als sie ein schwarzer Rabe besucht, der – mit runder Brille und Fliege unverkennbar ein alter ego von LeCorbusier – an ihr Gewissen appelliert, doch nicht einfach alles aufzugeben für diese „verrückte“ Reise. Zum Verständnis: „Verrückt“ meint im Kontext der männlich dominierten Designszene die Aktion einer selbstbewussten Frau, die mitten im Zweiten Weltkrieg beschließt, aus dem Schatten eines männlichen Meisters herauszutreten, um auf einem fremden Kontinent auf eigenen Beinen zu stehen. Von ihrem Alptraum wachgeworden, geht Charlotte an Deck und trifft zwei andere schlaflose Mitreisende. Ein Mann mit einem Hahn auf dem Arm, dem er den Sonnenaufgang zeigen will und eine Frau, die nach Shanghai reist, wo sie ihren Verlobten treffen wird. Ob sie mit ihrem Mann reise, wird Charlotte gefragt. „Je ne suis pas mariée“ antwortet Charlotte.

In dem skurrilen Zusammentreffen der drei Passagiere mit Hahn auf Deck kurz vor Sonnenaufgang ist bereits der Ton angelegt, mit dem Berberian die ungewöhnliche Geschichte der Charlotte Perriand erzählt: Unaufgeregt, poetisch und mit leisem Humor entwirft er Zeichnungsfolgen, die mal in schwarz-weiß, mal mit pastelligen Aquarellskizzen angelegt sind und an japanische Tuschzeichnungen erinnern oder an französische Comics aus den 1950er Jahren oder an beides. So atmet Berberians Erzählstil immer etwas von der Freigeistigkeit seiner Protagonistin. Vieles vermittelt sich zwischen den Zeilen bzw. zwischen den Bildern.

Zum Beispiel in der Szene mit der Pressekonferenz beim Ministerium, die anläßlich von Perriands Ankunft in Tokyo abgehalten wird. Wie könne es sein, fragt einer der anwesenden Journalisten, dass das Ministerium ausgerechnet eine Frau für einen solch wichtigen Job nominiert habe? Perriands Antwort ist sehr schlicht: „Ich stelle mir diese Frage selbst noch immer, aber ich fühle mich geehrt durch das Vertrauen.“ Punkt.

Culture Clash auf Japanisch

Perriand dachte nicht in gegensätzlichen Kategorien. Die Frage von Mann oder Frau war für sie ebenso uninteressant wie die Opposition von Alt und Neu, Rückschritt und Fortschritt. Ihr Interesse galt immer dem Raum und den durch ihn geschaffenen Möglichkeiten der sozialen Interaktion. „Die Leere“, so referiert Perriand im Rekurs auf Laotse an einer Stelle vor ihren Kollegen, „ist mächtig, weil sie alles enthalten kann. Leere ist nicht nichts, sondern die Möglichkeit sich zu bewegen.“ Die Delegation verfällt daraufhin in betretenes Schweigen und bricht die Anhörung vorzeitig ab. Culture Clash auf Japanisch.

Wenn man bedenkt, dass im damaligen Japan die europäische Moderne die Orientierung vorgab und die ästhetischen Leitplanken für eine zeitgemäße moderne Gestaltung definierte, ist diese Reaktion durchaus verständlich. Aber Perriand läßt sich nicht beirren und verfolgt ihr Konzept einer Verbindung der (vermeintlichen) Gegensätze von Tradition und Moderne, Japan und Europa mit der ihr eigenen sanften Beharrlichkeit. Anstatt den europäischen state of the arts zu vermitteln, wirbt sie im japanischen Ministerium für eine Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen Wurzeln.

Wie leben Menschen in unterschiedlichen Kontexten, wie wohnen sie, wie sitzen sie, wie arbeiten sie und mit welchen Materialien umgeben sie sich? Welchen Beitrag leisten Möbel zur Ausprägung sozialer Räume?

Mit diesen Fragen im Gepäck unternimmt sie Ausflüge in die japanische Provinz, um die lokalen Traditionen kennenzulernen. Sie entdeckt die Klarheit und Einfachheit von Räumen, die durch wenige Artefakte strukturiert und wandelbar sind. Sie ist fasziniert von den schlichten Möbeln aus Holz und Bambus und sie beginnt, aus diesen Grundformen und traditionellen Materialien Entwürfe abzuleiten. In Zusammenarbeit mit lokalen Werkstätten und Designern entstehen Prototypen, darunter auch die Liege „Tokyo“, aus Bambus und Holz, mit der Perriand ihre berühmte Stahlrohrliege neu interpretiert. Die umgesetzten Entwürfe werden 1941 unter dem Titel „Selection, Tradition, Création“ in einer großen Design-Ausstellung in Tokyo gezeigt und begeistert aufgenommen.

Heute gilt diese Ausstellung als Beginn der Ära des modernen japanischen Designs.

Ausstellungsinstallation „Selection, Tradition, Création“, Tokyo 1941

Yo No Bi

Das Alte ist modern, das Einfache komplex und die Tradition ist Inspiration für Neues. Aus diesen Verbindungen gewinnt die Geschichte ihre leichtfüßige Beweglichkeit. Das japanische Konzept des yo no bi („Schönheit & Funktion“) und das Motto der westlichen Moderne form follows function ergänzen sich wie zwei Seiten einer Medaille.

Die Japan-Reise bildet den roten Faden, um den herum Berberian immer wieder Schlaglichter auf biografische Stationen der Charlotte Perriand vor und nach dem Aufenthalt in Japan wirft. So erfährt die Leserin in Rückblenden von der Zusammenarbeit mit LeCorbusier, ebenso finden sich Hinweise auf ihr politisches Engagement und Perriands Eintreten für eine sozial verträgliche Architektur.

Charlotte Perriand, Haute Savoie um 1930

Auch die Naturliebe der Französin, die weite Teile ihrer Kindheit in den Savoyer Alpen verbracht hat, findet Berücksichtigung. Zeichnerisch großartig ist die Episode, in der Charlotte mit einer Gruppe durch eine verschneite Berglandschaft wandert. Mit viel weißblauem Nichts auf drei Seiten greift Berberian hier die Figur der Leere auf und übersetzt sie in Spiel-Räume fürs Auge. Wanderwege der Imagination.

Mit dem minimalistischen Teepavillon aus Bambus, den Perriand als eines ihrer letzten großen Werke 1993 für das Hauptquartier der Unesco in Paris gestaltet hat, endet Berberians Geschichte schließlich. Man sieht zwei zeitgenössische Spaziergänger, die in der Parkanlage vor dem Pavillon auf einer Bank sitzen und sich über Charlotte Perriand unterhalten. Damit schließt sich der Kreis …

… nicht ganz! Denn im Anhang der Graphic Novel findet sich noch ein langes Interview, das Charles Berberian mit Pernette Perriand, der Tochter von Charlotte, geführt hat. Darin eingestreut sind Aquarelle von Berberian zu den bekanntesten Möbeln der Designerin.

„Ich definiere mich nicht, das wäre eine Einschränkung“, hat Charlotte Perriand einmal gesagt. Und genau so ist Berberians Bilder-Buch: Überbordend, poetisch, gespickt mit Verweisen und einfach zauberhaft! Ein absolutes must für alle, die Zwischentöne lieben – zwischen den Zeilen, den Bildern, den Farben, den Kulturen und den Zeiten.

Charlotte Perriand während eines Japan-Aufenthaltes in den 1950er Jahren

Viel Vergnügen beim Lesen und: Bleibt gesund!

Nutzt die Zeit des Rückzugs, die uns unerwartet zur Verfügung steht, für all die Dinge, die ihr schon immer tun wolltet. Seid kreativ, malt, lest, tauscht euch mal wieder ausgiebig aus mit euren Familien und Mitbewohner*innen aus, renoviert eure Wohnung, zeichnet, schreibt, musiziert – oder macht einfach den Frühjahrsputz …