Die Berlinale neigt sich dem Ende zu, wie in all den vergangenen Jahren war ich ein treuer Besucher der verschiedensten Filme. Wie immer, gab es gute oder so-la-la Filme. Die Berlinale ist eine Pralinenschachtel: man weiß vorher nicht, was man kriegt und ob es einem schmeckt. Manchmal ist es zum Ausspucken abscheulich, aber dann gibt es auch Juwelen, die unvergesslich sind.

Von den Filmen, die ich in diesem Jahr gesehen habe, möchte ich hier über einen schreiben, der mich nachhaltig beeindruckt hat: “Persian Lessons”. Ich bin kein Filmkritiker, es geht also nicht um die (sehr beeindruckende!) Schauspielkunst (Lars Eidinger, Nahuel Pérez Biscayart) oder stilistische Bewertungen, sondern nur um meine sehr subjektive Wahrnehmung.

Der FIlm spielt 1942 in Frankreich während der Besatzung der Deutschen. Man denkt sofort, dass es wieder einer dieser Nazifilme ist, bei dem jeder weiß, wer gut und böse ist. Die große Kunst des Films ist aber, eine menschliche Geschichte zu erzählen, die innerhalb dieses Horrors spielen kann, ohne die Grausamkeiten zu relativieren. Ich sehe nicht so oft Nazi-Filme, deshalb hat mich diese Geschichte in den Bann gezogen.

In einem LKW werden Juden zu ihrer Erschießung gefahren. Der Nachbar im LKW des Protagonisten, Reza, hat seit Tagen nichts gegessen und fragt Reza, ob er ein Stück Brot habe. Ja, hat er. Der Nachbar bietet ihm zum Tausch ein Buch an, einen persischen Gedichtband. Reza stimmt widerwillig zu, und blättert in dem Buch mit den unentzifferbaren Schriftzeichen. Alle Insassen des LKW werden in einer Massenhinrichtung erschossen, nur Reza kann sich retten, indem er behauptet kein Jude sondern ein Perser zu sein. Als Beweis zeigt er den Gedichtband. Die SS-Männer verschonen ihn, da ihr Vorgesetzter nach einem Perser sucht und ihnen dafür 10 Dosen Fleisch versprochen hat.

Der Vorgesetzte, Obersturmbannführer Koch, braucht einen “echten Perser”, weil er Persisch (Farsi) lernen will. Nach dem Krieg will er nach Teheran auswandern und dort ein Restaurant eröffnen, und dazu muss man ja Farsi sprechen können. Reza bleibt am Leben, wenn er dem SS-Mann Koch Farsi beibringt. Reza stimmt sofort zu, nicht erschossen zu werden und stattdessen Farsi zu unterrichten. Sie vereinbaren jeden Tag Vokabeln zu lernen. Reza muss sich Worte, Laute ausdenken und glaubhaft als Farsi-Vokabeln lehren. Nach den ersten 20 Vokabeln kann er sich nicht mehr irgendwelche Kunstworte ausdenken und auch noch die Bedeutung zu merken, sodass er ein System erfindet: Eine seiner Aufgaben ist es, die Namen der Insassen zu protokollieren, und er erfindet Worte aus den Silben der Namen. Beim Suppenauschank sieht er sie und verbindet Namenssilben mit Vokabeln zu: “Trauer”, “Hoffnung”, “Lüge”, “groß”, “Kind”, usw. So bekommt jeder Mensch einen Namen und eine Eigenschaft, und damit eine Vokabel. Er wird zum wandelnden Lexikon einer erfundenen Sprache, die ihm das Leben rettet.

https://www.critic.de/film/persian-lessons-13808/trailer/

Der Film behauptet, dass die Geschichte auf einer echte Begebenheit basiert, ob das stimmt oder nicht ist eigentlich egal. Denn Geschichte ist ebenso verrückt wie zutiefst menschlich. Wer würde nicht lügen was das Zeug hält, um zu überleben? Für mich ist die viel bedeutendere Botschaft, wie unersetzlich Worte und Sprache sind. Sprache konstituiert Identität. Mit Worten kann man überleben, man kann Sprachen erfinden, man kann Menschen erreichen, sogar SS-Offiziere.

Nach der Befreiung wird Reza vom britischen Offizier gefragt, ob er denn auch Namen der Gefangenen und Abtransportierten kenne. Das ist kein Problem, sagt er, ich hab alles in Listen protokolliert. Der britische Offizier schüttelt den Kopf, die Nazis haben alle Unterlagen verbrannt, ob er deshalb nicht doch den einen oder anderen Namen kenne? Ja, sagt Reza, ich kenne 2400 Namen. Und dann fängt er an, alle Namen, einen nach dem anderen aufzusagen, minutenlang. Er weiß sie noch alle, die Namen sind nicht vergessen, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Menschen leben weiter in den erfunden Farsi-Vokabeln.

Der Film lief leider nicht im Wettbewerb, sonst hätte er sicher den einen oder anderen Preis gewonnen.