Barcelona, Chile, Irak, Bolivien, Hong Kong – es scheint so, als ob gleichzeitig an verschiedenen Stellen der Welt die gleiche Unzufriedenheit sich in Protesten Luft machen muss. So angenehm einfach diese Erzählung wäre, sie stimmt einfach überhaupt so gar nicht. In Hong Kong geht es um etwas ganz anderes. Ich möchte hier nur die Hongkonger Geschichte erzählen und die geht so:
Seit Wochen gehen die Hongkonger auf die Straßen und protestieren gegen die Regierung. Und mit Hongkonger sind alle gemeint: Schüler, Eltern, Banker, Lehrer, Anwälte und Büroangestellte. Und zwar nicht nur ein paar, sondern ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Das wäre so, als wenn in Berlin 1 Million Menschen gegen die Regierung demonstrieren würden! Was wollen die? Was ist so wichtig, dass sie seit nunmehr 5 Monaten jedes Wochenende auf die Straße gehen?
Auslöser war ein Gesetz, welches die Auslieferung von Häftlingen nach China erlauben sollte. Nach einer viel zu zögerlichen Reaktion (und letztendlichen Rücknahme des Gesetzentwurfs) der Regierung geht es inzwischen um viel weniger – und viel mehr. Die verbleibenden Forderungen sind eigentlich überschaubar:
- Eine unabhängige Untersuchung der brutalen Polizeigewalt.
- Die Anklage gegen die Verhafteten soll nicht auf “riot”, also Randale, Aufstand lauten, weil diese mit bis zu 10 Jahren Haft bestraft werden kann.
- Freilassen der bisher verhafteten Demonstranten.
- freie demokratische Wahlen.
Die Regierung, allen voran die Chefin Carrie Lam, ist mit der Situation völlig überfordert und ist seit Monaten nicht handlungsfähig. Im Laufe der vergangenen Monate ist schnell klar geworden, dass sie nur eine Marionette Pekings ist und keinerlei eigene Vorstellung davon hat, wie sie mit den Demonstrationen umgehen soll.
Was bisher geschah
Hong Kong war bis 1997 eine britische Kolonie und gehört seitdem wieder zu China. London und Peking vereinbarten seinerzeit, dass Hong Kong für die nächsten 50 Jahre weiterhin als Freihandelszone bestehen bleiben wird. Das Motto dafür lautet “Ein Land, zwei Systeme”. Während in China mit dem Politbüro unter Xi Ping eine autokratische, kommunistische Diktatur herrscht, hat Hong Kong weitgehende Sonderrechte. Es gibt u.a. ein eigenes Justizsystem, eine eigene “Verfassung” (Basic Law), eine eigene Währung und einen Freihafen. Das Parlament besteht zur Hälfte aus “Abgeordneten”, die von Peking bestimmt werden und zur anderen Hälfte von gewählten Vertretern, die allerdings vorher von Peking genehmigt werden müssen. Eine zentrale Forderung der Protestbewegung ist, dass das gesamte Parlament frei gewählt wird.
Es geht längst nicht mehr um diese marginalen Veränderungen, ansonsten würden nicht Woche für Woche, monatelang hunderttausende auf die Straße gehen. Das geplante Rückführungsgesetz war nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat – es ist längst (too little, too late) zurück gezogen worden.
Stadt der Superlative
Hongkong ist eine Stadt, die funktioniert wie eine gut geölte Maschine. Der öffentliche Nahverkehr ist vorbildlich: schnell, zuverlässig und sauber. Eine reguläre Fahrt mit der U-Bahn in einem weit verzweigten Netz kostet ca. 1 Euro, bezahlbar mit einer stadteigenen Geldkarte, die fast überall eingesetzt werden kann. Die Menschen sind freundlich, Kleinkriminalität ist nahezu unbekannt, an der Bushaltestelle stehen alle geduldig in einer langen Schlange hintereinander. Die medizinische Versorgung ist erstklassig, die meisten Leistungen sind für Hongkonger kostenlos. Hong Kong ist eine reiche, boomende Stadt. Auf den Straßen fahren auffällig viele Teslas und andere Autos die 6-oder 7-stellige Beträge kosten. Das Nationaleinkommen Pro-Kopf betrag 2019 über 50.000 US$, erst vor neun Jahren waren es nur 33.000 US$. Zum Vergleich: In Deutschland lag es vor neun Jahren bei 44.000 US$ und hat sich im selben Zeitraum nicht verändert. Hong Kong hat Deutschland bei diesem Wohlstandsmesser überholt. Hong Kong hat weltweit die höchste Lebenserwartung, sie liegt bei durchschnittlich 85 Jahren, deutlich höher als z.B. in den USA (78 Jahre), aber auch vor Japan. Trotzdem sind die Hongkonger nicht glücklich: Im Glücksbericht der UN liegt Hong Kong auf Platz 76 von ca. 200. Warum?
Aber nicht für alle
Die soziale Ungleichheit ist viel größer als in vergleichbaren Staaten wie z.B. Singapur oder Taiwan. Am deutlichsten sichtbar wird es auf dem Immobilienmarkt. Wohnen in Hong Kong war schon immer sehr teuer. Immobilien in Hong Kong sind schon viele Jahre mit die teuersten der Welt. Letzte Woche (November 2019) wurde in einem Neubaugebiet Wohnungen zum Verkauf freigegeben. Das Gebiet (Tsing Yi) liegt weit außerhalb der Stadt, ist aber mit einer Schnellbahn gut angebunden. Alle 375 Wohnungen waren innerhalb einer Stunde verkauft, weil die Preise so günstig waren: die Käufer haben durchschnittlich 34.000 Euro pro Quadratmeter bezahlt. Die durchschnittliche Wohnfläche in Hong Kong pro Person beträgt 15m². Auch in anderen Ländern haben die Immobilienpreise astronomische Höhen erlangt, aber nirgends auch annähernd so hohe wie in Hong Kong. Um die Preise vergleichen zu können berechnet man, wieviele Jahresgehälter ein durchschnittlich Verdienender für eine durchschnittliche Wohnung aufbringen muss. In Deutschland, wie auch in USA, Großbritannien, Irland oder Australien z.B. sind das ungefähr 6 Jahresgehälter. In Hong Kong waren es bereits vor neun Jahren schon 12 Jahresgehälter. Heute sind es unvorstellbare 21 Jahresgehälter!
Teurer Wohnraum in Hong Kong – der Staat freut sich
Die Ursachen liegen nicht nur an dem groben Missverhältnis von Angebot und Nachfrage. In den letzten 70 Jahren ist die Bevölkerung von 600.000 auf 7,5 Millionen gewachsen. Aber ähnliche Entwicklungen hat es weltweit auch anderswo gegeben, ohne dass der Wohnungsmarkt so extreme Verwerfungen hervorgebracht hat. Eine der Ursachen liegt pikanterweise bei der Regierung, die von den hohen Preisen profitiert. Als Hong Kong noch eine Kolonie war, haben die Briten im 19 Jahrhundert verfügt, dass Bauland nicht verkauft wird, sondern auf 99 Jahre verpachtet wird, ähnlich wie es heute noch in London gehandhabt wird: Dort gehört noch immer die halbe Stadt der Krone oder dem Hochadel. Diese Regelung wurde in Hong Kong nach der Übergabe an China beibehalten, da sie sehr lukrativ ist: Dem Staat gehört das Land und er kassiert jährlich Pacht. Der Pachtzins richtet sich nämlich nach dem aktuellen Wert des Grundstücks: 3 Prozent jährlich fließen in den Staatshaushalt! Das bedeutet, dass der Staat ein eigenes Interesse daran, das Angebot knapp zu halten, weil dadurch (und wegen der hohen Nachfrage) der Wert der vorhandenen Immobilien steigt, und damit die Pachteinnahmen. Der Staat Hong Kong hat schon immer einen Haushaltsüberschuss erzielt, also mehr eingenommen als ausgegeben. Ein großer Teil des Haushalts, nämlich 33%, stammen aus der Pacht. Würde die Regierung mehr Bauland freigeben, würden die Grundstückspreise sinken und damit auch die Pachteinnahmen.
Der Staat selber trägt also die Hauptverantwortung für die exorbitanten Immobilienpreise. Während in allen anderen Märkten der Welt der Grundstückspreis 20-30% einer Immobilie ausmacht, beträgt er in Hong Kong 60% oder mehr!
Und hier endet die Ungleichheit innerhalb des Stadtstaates nicht. Jeder fünfte Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze. Das bedeutet, dass sie weniger als ca. 460 Euro im Monat zum Leben haben. Die Armutsgrenze ist die Hälfte des mittleren (median) Einkommens. Da das durchschnittliche Einkommen ca. 3.500 Euro beträgt wird überdeutlich, wie groß die Schere ist: Die obersten zehn Prozent der Bevölkerung (eine knappe Million Menschen) verdienen 44-mal so viel die unteren 10 Prozent.
Diese Großverdiener werden auch explizit beworben: Hong Kong ist ein Niedrigsteuergebiet, der Höchststeuersatz beträgt nur 17% (zum Vergleich Deutschland: 47%). Es gibt keine (also 0%) Umsatzsteuer (in Deutschland: 19%), es gibt auch keine (0%) Steuern auf Dividenden (in Deutschland: 25%). Die neuen Millionäre aus China sind willkommene Neubürger. Diese leben von ihren Kapitalerträgen, auf die sie in Hong Kong keine Steuern zahlen, während die Masse der Erwerbstätigen auf ihr Einkommen Steuern abgeben müssen. Die 5 bedeutendsten Tycoons der Stadt haben 2017 Dividenden in Höhe von ca. 2,8 Milliarden Euro erhalten – steuerfrei!
China ist anders
Als China 1997 die Kolonie übernahm waren die versprochenen 50 Jahre Autonomie eine halbe Lebenszeit für die damaligen Akteure. Sie würden die Übergabe nicht mehr erleben. Jetzt, nach der knappen Halbzeit sieht es auf einmal alles ganz anders aus.
China hat sich seitdem immer mehr zu einer autoritären Diktatur entwickelt. Gleichzeitig ist es die weltweit technologisch führende Nation, die klare langfristige Perspektiven verfolgt, um Marktführer in allen wichtigen zukünftigen Bereichen zu sein. Innerhalb einer Generation hat das Land 500 Mio. Menschen aus bäuerlicher Armut in eine zufriedene Mittelschicht geführt! Was wir im Westen mit Schaudern sehen – Totalüberwachung, Social Scores, 72 Stunden Wochenarbeitszeit – wird im heutigen China komplett anders bewertet. Das Individuum ist nicht wichtig: wenn die Gemeinschaft profitiert, profitiert auch jeder einzelne. Die Entwicklung der letzten 40 Jahre geben dieser Sichtweise Recht, vor allem den vielen Familien, die aus der Armut zu einem vorher unvorstellbaren Wohlstand gekommen sind. Mit Erstaunen und Unverständnis sehen sie auf die Proteste in Hong Kong. Sicherlich auch weil die Nachrichtenlage in China selbst gefiltert ist. Aber selbst bei weltoffenen Chinesen, die auch Zugang zu anderen Medien haben, die in der westlichen Welt zu Hause sind und andere Meinungen hören, überwiegt das Kopfschütteln über die Rebellen von Hong Kong.
Hong Kong kämpft für eine Zukunft
Diese “Rebellen” tun nichts anderes als für ihre Zukunft zu kämpfen. Selbst ein gut verdienender Angestellter aus der Mittelschicht wird sich niemals eine Wohnung in Hong Kong leisten können und stattdessen weiter bei der Familie leben müssen, obwohl er bereits über 40 Jahre alt ist. Wer in Hong Kong in den letzten 20 oder 40 Jahren gelebt hat, hat andere Werte als die Festlandchinesen. Selbstverwirklichung, Entwicklung der Individualität, das Glück finden im Einklang mit sich selbst und der Umwelt – diese Werte will kein Hongkonger aufgeben. Diese Werte werden von der Regierung in Peking bedroht.
Die Demonstrationen begannen mit dem Protest gegen das Gesetz, aber dann verschob sich der Widerstand, gegen die Reaktion auf die legitimen und gewaltlosen Demonstrationen. Auf einmal geht es gar nicht mehr einzelne Rücktritte oder Änderungen einzelner Gesetze – es geht um nichts anderes als die Zukunft. Die Bewegung ist so groß, dass jede und jeder in Hong Kong damit in der einen oder anderen Weise sympathisiert. Es sind nicht nur die jungen Menschen, die jede Woche mehrmals mit vielen kreativen und sehr überwiegend gewaltlosen Aktionen auf die Straße gehen. Mütter, Väter, Banker, Piloten, Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten unterstützen die Proteste, nur deshalb gehen die Proteste jetzt in den fünften Monat. Letzte Woche gab es z.B. eine eigene Demonstration der Gesundheitsberufe. Tausende versammelten sich, um gegen die Brutalität der Polizei zu demonstrieren, deren Auswüchse sie danach behandeln müssen.
Die Regierung ist hilflos
Die Regierung reagiert auf die Proteste mit erschütternder Hilflosigkeit. Die Chefin, Carrie Lam, ist unsichtbar und völlig überfordert. Die lokale Polizei hat solche Demonstrationen noch nie gesehen und hat keinerlei Fingerspitzengefühl dafür, was bedrohlich ist oder nicht. Das führt zu völlig überzogenen Handlungen, z.B. dass ganze Straßenzüge mit Tränengas bombardiert werden, obwohl dort gar keine Demonstranten sind, geschweige denn dass gewalttätige Akteure zugange wären. Wasserwerfer haben eine Moschee komplett in Tränengas getaucht, obwohl dort deutlich sichtbar nur ein paar Gläubige im Hof standen. Die Polizei hat keinerlei Erfahrung mit Demonstrationen und reagiert völlig unverhältnismäßig.
Einigkeit schafft Identität
Was bisher den Hongkongern bisher gefehlt hat, war eine eigene, identitätsstiftende Kultur. Bisher war die gemeinsame Verheißung, dass in der Stadt hart gearbeitet wird, um viel Geld zu verdienen, um den eigenen Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Dieses Versprechen kann nicht mehr aufrecht erhalten werden. Diese Proteste haben etwas geschaffen, was vorher niemand geplant hatte oder vorhersehen konnte: Es gibt eine gemeinsame Hongkonger Identität, die sich quer durch alle Schichten und Bevölkerungsgruppen zieht. Sie richtet sich nicht gegen China, sondern auf ein Selbstwertgefühl, das es bisher so noch nicht gegeben hat. Gerade die Behauptung der eigenen Identität gegen den scheinbar unbesiegbaren Riesen China verleiht die Kräfte, die nötig sind, um sich darauf zu besinnen, was alle Hongkonger eint. Die Solidarität, die die Demonstranten aus allen Schichten erfahren, speist sich aus dem neuen Selbstbewusstsein einer eigenen Hongkonger Identität. In der Vergangenheit waren es die Briten, die Hong Kong als Kolonie bewirtschaftet haben. Vor gut 20 Jahren haben die Chinesen die Hongkonger weiter gewähren lassen, in der Annahme von den finanziellen Vorteilen (Asiens Finanzmetropole) profitieren zu können. In den letzten 20 Jahren hat sich aber ein eigenes Land entwickelt, welches nicht mehr behandelt werden will wie ein kleines Kind.
Es ist nicht der Wunsch das System umzustürzen. Es ist auch nicht die Forderung nach der Unabhängigkeit von China, was Peking so sehr fürchtet. Es ist viel mehr:
Es ist der Wunsch nach Anerkennung, der Wunsch nach Sichtbarkeit. Sie wollen ernst genommen werden, als Hongkonger. Sie wollen gehört werden.
Vielleicht ist das dann doch das verbindende Element mit Barcelona und woanders.