
Alle paar Jahre wieder reisen wir nach New York. Und jedes Mal ist es anders. Diesmal war es so:
KALT
New York ist viel kälter als Berlin. Zumindest Ende Januar. Während in Berlin in Zeiten des Klimawandels die ersten mutigen Restaurantbesitzer schon mal Tische und Stühle nach draußen stellen, schneit es auf der Fifth Avenue und die New Yorker schlurfen fest eingemummelt und mit Uggs an den Füßen (die ich nach wie vor für die hässlichsten Schuhe ever halte (neben den noch hässlicheren Crogs)) über die vereisten Gehwege. Die Kälte lässt kleine Wölkchen beim Ausatmen entstehen. Zusammen mit den Rauchwolken aus den dampfenden Gullis bilden sie eine neblige Kulisse für das Rot der Ampeln und das Gelb der Taxen. Wie in einem Weihnachtsfilm.
LAUFEN
… im Central Park morgens um 7. Den Jetlag bei minus sechs Grad aus den Knochen treiben. Das geht ganz einfach, weil man völlig fasziniert auf die sich ständig wandelnde Skyline von Upper East und Upper West schaut: Zwischen den vertrauten jugendstiligen Apartmentkomplexen und neugotischen Trutzburgen mit ihren 300 qm DeLuxe-Wohnungen plus ausladenden Dachterrassen haben sich superdünne Skyscraper in den Himmel geschraubt: die neuen sogenannten Bleistift-Hochhäuser. Gegenüber dem diskreten Charme der bourgeoisen Upperclass-Architekturen wirken sie ein wenig wie nervös tänzelnde neureiche Verwandte, die zum ersten Mal auf Besuch sind und unbedingt einen guten Eindruck hinterlassen wollen.

FILMKULISSE
In New York fühlt man sich die ganze Zeit wie in einer Filmkulisse. Das Gehirn spult die gespeicherten Filmbilder aus all den Filmen aus New York, über New York, in New York ab und tackert sie an das dran, was man gerade sieht. Das wirkt manchmal irritierend, manchmal macht es aber auch extrem gute Laune – zum Beispiel, wenn man mit Woody Allens neurotisch-nostalgischem Schwarzweissfilter auf den Augen durch Manhattan spaziert.
ZEITLOS UNZEITGEMÄSS
New York ist keine Megacity. Zwar gehört es noch immer zu den größten Städten weltweit, aber ohne das Megalomanische von Megacities wie Dakha, Mumbai oder Tokyo. So wie Paris die Stadt des 19. Jahrhunderts gewesen ist, so ist New York die Stadt des 20. Jahrhunderts und je weiter das 21. voranschreitet desto mehr wirkt sie wie aus der Zeit gefallen mit ihren kaputten Straßen, veralteten U-Bahnen, den scheppernden Klimaanlagen und gurgelnden Wasserrohren. New York’s technischer Standard stammt größtenteils noch aus den 1960ern. Und so hört es sich auch an. Die Stadt klappert, ächzt und stöhnt – dazu summt leise die Titelmelodie aus Brazil.

ANDERERSEITS
Wie Gentrifizierung aussieht, kann man im südlichen Teil von Manhattan sehen. Südlich der 4. Straße, oder im Lower East-End, dort wo es früher Freiräume für neue oder andere Lebensformen gab, sind in den kleinen, feinen Ladenlokalen heute Designerlabels eingezogen. Im Schaufenster sieht man nur eine Handvoll ausgewählte Stücke; alles ohne Preisschild, versteht sich. Die Kapitalismusnischen sind verschwunden…

NISCHEN
… oder auch einfach anders besetzt. Zynisch könnte man sagen: konsequent besetzt, nämlich von Obdachlosen, die in U-Bahnschächten, vor ausladendenden Schaufensterfassaden oder in Shoppingmalls sitzen und liegen. Oft barfuß, mit zerlumpten Klamotten und zugedeckt mit speckigen Plastikfolien markieren sie die dunkle Seite der Luxusmarke BIG APPLE.

TEUER
New York ist wahnsinnig teuer. Der Dollarkurs bewegt sich nicht dramatisch, es sind viel mehr die normalen, lokalen Preise. Eine Pizza für 30 US$, ein Glas Wein für 10 US$, ein Frühstücksomelett für 16 US$. Das sind die Preise in einem profanen Eck-Diner oder der Pizzeria Downtown. Gemessen an der Einkommenssituation, die nicht so viel anders sein dürfte als in Berlin, fragt man sich verzweifelt, wie die Familie, die am Nebentisch fröhlich vier Pizzen inklusive Nachtisch, Cola und einem Eimer Bier verdrückt (ja, Bier wird hier in Plastikeimern für „nur“ 30 US$ pro Liter angeboten) das finanziell stemmen kann – an einem banalen Montag, einfach so, abends um 7.
EINNERUNGSBRÖSEL
Eine Reise nach New York ist für alle Pop-Kulturalisten, Bohemians und andere unverbesserliche Liebhaberinnen von Subkulturen das, was die Grand Tour nach Italien vor 300 Jahren gewesen ist: ein Sehnsuchtsort für Zitronenliebhaber (Goethe!), für Kunst-Goldschürfer und für romantische Seelen mit Faible für Ruinen. Nur dass es im Fall von New York nicht um reale Ruinen geht, sondern eher um so etwas wie sentimentale Brösel der eigenen Erinnerungsbilder…
POP
… Apropos Erinnerungsbrösel. Warhols Factory und Basquiat, Patti Smith und Velvet Underground, Tom Waits und die Brooklyn Opera. Popkultur und Off-Spirit: New York war Out of the Box lange bevor der Begriff den Mainstream erreichte. Und heute? Glücklicherweise gibt es zwischen den abweisenden Glasfassaden gigantischer Immobilienprojekte und den hochpreisigen Modelabels im kaputtsanierten Soho immer noch grandiose Kunsterlebnisse…

AMERICAN UTOPIA
… Zum Beispiel David Byrnes „American Utopia“ im Hudson Theatre. Music meets performance meets humor meets politics. Allein schon das Bühnenbild dieses Konzerts, das wie eine Musik-Performance funktioniert, aber auch eine minimalistische Tanz-Choreographie sein könnte: Kettenschnüre auf drei Seiten der Bühne, die zu Beginn des Konzerts ganz langsam nach oben gezogen werden, um das Geschehen für die folgenden zwei Stunden als silberner Vorhang einzufassen. Dazwischen 11 grandiose Musiker-Performer und ein gutgelaunter David Byrne, der immer wieder Anekdoten erzählt und die Amerikaner an ihre politische Verantwortung im Wahljahr 2020 erinnert. American Utopia made in 2020!
Alle paar Jahre wieder reisen wir nach New York. Und das nächste Mal wird es wieder anders sein.
Till
25. Januar 2020 — 7:55
Klasse Bilder und sehr erfrischend geschrieben! Macht weiter so! Ich freu mich schon auf den nächsten Artikel!
Anja
25. Januar 2020 — 9:20
Danke für dein Feedback, lieber Till! Es tut immer gut, wenn aus der Blackbox www. was zurückkommt :-))
Horst
5. Juni 2023 — 6:55
Erweckend! Sitze im Hotel in der Ukraine und warte auf das Erwachen der anderen Mitreisenden. Bin unverhofft auf den Blog gestossen und an den Texten hängengeblieben … erweckend, im wahrsten Sinne. Leider ohne Bilder im Text (dünne Verbindung?), aber eigenen im Kopf. Jetzt kann der Kaffe und der Tag kommen.
Anja
7. Juni 2023 — 18:24
Genauso soll es sein – danke für dein Feedback, Horst!