Es gibt da diese Kosmetikfirma, Rituals, die machen Cremes, Duschöle, allen möglichen Kram, der sich irgendwie biologisch-natürlich anfühlen und auch so aussehen soll. Holz, erdige Farben, Gerüche von Gewürzen und Waldboden, Exotik gemischt mit einer Prise Landhaus. Der Markenname transportiert ein Klischee von „good old stuff“, und geht mit der Vorstellung einher, irgendwann in einem Land vor unserer Zeit seien die Dinge irgendwie echter, authentischer, purer gewesen und dass man sich dieses Pure, Echte, Authentische durch Aufsprühen, Eincremen, Durchrubbeln wieder aneignen könne.
Weihnachten funktioniert ähnlich. Statt Markenbotschaft ein Heilsversprechen, das alle Jahre wieder mit der Weihnachtsgeschichte in Erinnerung gerufen wird. Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier. Vier Wochen multisensuelle Ganzkörpermassage mit funkelnden Tannenbäumen, Weihnachtsliedern, Glühwein, Zimtgeruch, und, natürlich, dem allgegenwärtigen Geschenke-Kaufrausch. Man hüpft von Weihnachtsfeier zu Firmenessen, checkt die letzten Geschäftstermine; dazwischen werden noch die Jahresbilanzen erstellt und die letzten Budgets ausgegeben. Von Besinnlichkeit keine Spur. Vor allem in Berlin habe ich den Eindruck, dass die Geschäftigkeit in dem Maße zunimmt, in dem der Bezug zum Ursprung dessen, was da eigentlich gefeiert wird, verlorengeht. Die strahlenden Lichter verdecken, dass wir ordentlich im Dunkeln stolpern. Und dann kommt Heiligabend, der Höhepunkt. Ruhe kehrt ein. Alle Lieben versammeln sich um den Baum, man knuddelt sich, man kabbelt sich, man rubbelt Verpackungen auf und zelebriert Nähe und Nächstenliebe. Weihnachten ist ein Ritual. Jeder liebt es, jeder hasst es.
Rituale gehören zum Menschsein wie das Jagen und Sammeln.
Warum ist das so? Aus sozialanthropologischer Sicht lässt sich das Ritual definieren als wiederkehrende Handlung mit stark formalisierten Regeln, die für alle Gruppenmitglieder eine verbindliche Symbolkraft entfalten. Ursprünglich sind Rituale aus abgewandelten Alltagstätigkeiten wie Ernte und Ernährung, Tausch und Feiern entstanden. Sie folgen einem immer gleichen Ablauf – zu gleichen Zeiten, an gleichen Orten, unter gleichen Bedingungen. Damit hat das Ritual eine wichtige soziale Funktion: In ihm verdichten sich Modelle von Gemeinschaft und Zusammenleben, die für alle gelten. Die geregelte Struktur schafft Sicherheit und bietet zugleich Entlastung, denn im Ritualmodus sind Platz und Rolle der Beteiligten geklärt. Der Einzelne kann auf Autopilot schalten.
Weihnachten ist ein uraltes Ritual
Schon in heidnischer Zeit gab es das Fest der Wintersonnenwende: Ende Dezember wird es ganz langsam wieder heller und mit dem Licht kommt das Leben zurück. Der immergrüne Tannenbaum steht dafür ebenso wie das Licht der Kerze. Das Christentum hat diese Botschaft übernommen und mit dem Narrativ der Geburt Jesus aufgeladen. Weihnachten wurde zum Fest der Hoffnung und der Dankbarkeit. Soweit die Botschaft.
USDA Christmas Trees Market and Shipping Point Inspection Instructions, https://www.ams.usda.gov/sites/default/files/media/Christmas_Tree_Inspection_Instructions%5B1%5D.pdf
Bis heute bildet Weihnachten das vielleicht letzte große, verbindende Ritual im christlichen Kulturkreis und auch, in Zeiten von Säkularisierung und Globalisierung, ein Fest der interkulturellen Verständigung. Kann es zumindest sein – ich habe zum Beispiel gestern mit meinem Kreuzberger Lieblingsfleischer Rezepte für Weihnachtsbraten ausgetauscht.
Allerdings beobachte ich gerade in Berlin um die Weihnachtszeit auch eine Art Phantomschmerz. Viele erleben statt Glauben und Transzendenzerfahrung ein Vakuum, das durch Geschenke, Glitter und Lametta nur unzureichend gefüllt wird. Was bleibt, ist eine diffuse Sehnsucht, dass da eigentlich noch mehr sein sollte. Und so fangen Familien an zu streiten, Paare trennen sich unter dem Weihnachtsbaum, Alleinstehende verbringen Weihnachten in der Eckkneipe. Die Sehnsucht nach etwas, das nicht (mehr) da ist, ist der Grund für weihnachtliche Familiendramen ebenso wie für die zahllosen Weihnachts-Verweigerer, die dem ganzen Trubel entkommen wollen, indem sie in die Karibik jetten oder sich alleine, zuhause in der Badewanne, eine jahresendzeitliche Auszeit gönnen.
Auch eine duftende Badewanne kann ein Ritual sein…
… ein Ritual, das man nicht mit anderen, sondern mit sich selbst praktiziert. Vieles spricht dafür, dass darin eine neue, zeitgemäße Dimension entsteht. Egal ob es sich um Tutorials auf Youtube handelt, die zeigen, wie man am besten seine Wohnung ordentlich hält, um morgendliche Yogarituale, 10-Punkte-Pläne zur Stressbewältigung oder die erwähnte Badewanne: Die sozialen Medien und andere Kommunikationskanäle sind voll von guten Ratschlägen, wie man Ordnung und Struktur schafft – und damit Sinn produziert. „Wenn du die Welt verändern willst, fang mit den kleinen Sachen an“, rät der ehemalige US-Offizier William McRaven. Sein Buch Mach dein Bett! stand wochenlang auf der Bestsellerliste der New York Times und wurde zu einer Art Bibel für Jünger der Morgenroutine.
Mein persönliches Ritual ist das Laufen. 3-4 mal die Woche ziehe ich meine Runden im Gleisdreieck-Park. Eine Stunde Auszeit vom Alltag. Eine Stunde Atmen und Körper-Sein. Und immer wieder erlebe ich die Stunde als befreiend. Egal ob ich mich davor schlecht gefühlt habe, gut oder einfach gleichgültig. Danach fühle ich mich besser.
RobertSmithson, Spiral Jetty, Great Salt Lake / Utah 1970
„Rites de passage“
Rituale sind so etwas wie Seismographen von gesellschaftlichen Vereinbarungen. Sie loten aus, was in einer Gemeinschaft funktioniert – und was nicht (mehr). Für diese transformierende Kraft hat die Sozialanthropologie die schöne Formulierung „Rites de passage“ gefunden. Rituale sind Übergänge. Im Gegensatz etwa zur Zeremonie, die lediglich eine gegebene soziale oder kulturelle Konvention bestätigt, haben Rituale auch die Kraft, diese umzuformen. Sie unterbrechen den Alltag, indem sie vertrauten Handlungen einen Rahmen geben und schaffen durch diese Unterbrechung zugleich die Möglichkeit, den Rahmen infrage zu stellen. Das strauchelnde Weihnachtsritual stellt aus dieser Sicht ein Symptom dar. In einer Welt, in der die soziale Logik des Allgemeinen in eine soziale Logik des Besonderen kippt, verlieren die großen, gesellschaftlichen Verabredungen ihre Bindekräfte.
Tomas Saraceno, On Space Time Foam, 2012
Jeder steckt in seiner eigenen Blase
Und hier kommen die „kleinen Rituale“ ins Spiel. In ihnen weicht die Makroperspektive einer Mikrosicht auf den individuellen und persönlichen Kosmos. Nicht mehr das große Ganze steht zur Debatte, sondern der private, überschaubare Radius. Kleine Rituale vermitteln Sicherheit in einem überschaubaren und kontrollierbaren Rahmen. Das Außen lässt sich ohnehin nicht ändern und bleibt außen vor. Dadurch entstehen Sonderzonen, kleine Inseln eines bewussten Erlebens, in denen das Rauschen der Zeichen für Momente erlischt und einer Erfahrung von Präsenz weicht.
Das ist schön und gut, doch Präsenz und Selbsterfahrung ist nicht alles und die Wiederverzauberung der eigenen Welt sollte nicht mit dem Rückzug aus sozialer, politischer und kultureller Verantwortung bezahlt werden. Es bleibt jedenfalls zu hoffen, dass die Kraft der „kleinen Rituale“ uns auf Dauer nicht zu einer Gesellschaft von Selbst-Optimierern erzieht.
Die Welt braucht auch große Rituale – heute mehr denn je! Mein Weihnachtswunsch wäre deshalb, dass wir mit dem Spirit von Fridays-for-Future ein Ritual erfinden, das Cradle-to-cradle Prinzipien, Kreislaufdenken und immaterielle Werte rahmt und eine gesamtgesellschaftliche Wirkung entfalten kann. Da gibt es ja noch mehr als Demos, oder? Die Weihnachtszeit wäre dafür gar nicht so schlecht geeignet…