Die Lüge vom Frühling in Berlin

(Heads up: Die einzelnen Bilder unterscheiden sich nicht nur durch das Datum…)

6. April 2019

Von klein auf lernen wir ungefragt in Kinderliedern und Abzählreimen, dass es vier Jahreszeiten geben soll. Alle vier werden gleichberechtigt besungen, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, so als ob alles seine Zeit hätte. Für jede Jahreszeit gibt es poetische Bilder die irgendetwas mit dem Korn auf dem Feld oder dem Erwachen der Gefühle zu tun haben.

Schön wär’s.

7. April 2019

Der Frühling ist die unschuldigste der vier Jahreszeiten, steht gemeinhin für Erneuerung und Frohsinn. Veronika mit dem Spargel und dem Lenz, der Frühtau und die Berge, das flatternde blaue Band und die Lüfte, selbst JWG sackt in der Frühlingssonne zusammen: hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Frühlingsgefühle sind unvergleichlich – alles ist wieder frisch und erneuert sich. Den dunklen Winter hat man halbwegs unbeschadet überstanden, jetzt kommt die Zeit des Aufbruchs und der Zuversicht. Dies ist die Zeit des hellen Grüns und der Blüten, bevor der heiße Sommer einen wieder in die Schranken weist.

8. April 2019

Leider stimmt das nicht.

9. April 2019

Der Frühling in Berlin ist eine Schimäre, ein Trugbild. Es gibt ihn eigentlich kaum. Rein rechnerisch stünden dem Frühling drei Monate des Jahres zu. Leider ist die Zeit des Frühlings, und damit die kurze Zeit des Aufbruchs nach dem langen Winter, in Berlin nur genau zwei Wochen.

Der Frühling in Berlin fand dieses Jahr genau vom 7. bis zum 23. April statt.

10. April 2019

Und um das zu beweisen, habe ich den Berliner Frühling dokumentiert. Bei mir um die Ecke gibt es die malerische Lottumstraße. Sie ist rechts und links gesäumt von Kirschblütenbäumen. 50 Wochen im Jahr stehen diese Bäume gelangweilt in der Gegend herum.

11. April 2019

Aber im Frühjahr zeigen sie ihre ganz Schönheit. Sie blühen, als ob es kein Morgen geben würde.

12. April 2019

Diese blühende Freude ist in der Stadt selten, sie fällt auf. Tatsächlich ist diese Pracht importiert, und zwar relativ jung. Vor 30 Jahren haben die Japaner aus purer Freude darüber, dass endlich die Mauern auch in Berlin gefallen sind, eine Spendenaktion gestartet. Das Geld wurde in japanische Kirschbäume investiert, die in Berlin an ausgewählten Stellen gepflanzt wurden.

16. April 2019

 

Diese Bäume tragen keine Früchte, sie erfüllen auch sonst keinen anderen wirtschaftlichen Zweck. Sie haben nur eine einzige Botschaft, nämlich Schönheit – die Stadt für eine kurze Zeit in ein Blütenmeer zu verwandeln.

17. April 2019

Mit den Blüten weht auf einmal eine Idee von einem besseren Leben durch die Straßen, von Aufbruch und dem Gefühl, dass doch alles seine Richtigkeit hat.

18. April 2019

Einmal im Jahr, für zwei Wochen, blühen diese Bäume mit einer arroganten, selbstbewussten Helligkeit, so dass Fußgänger staunend sich unter die Bäume stellen, Autos unvermittelt anhalten und Kinder komplizierte Fragen stellen.

21. April 2019

Nach leider nur zwei Wochen ist alles wieder vorbei, übrig geblieben ist nur eine unerfüllte Verheißung auf den Sommer.

23. April 2019

Aber es macht sichtbar, was wir uns alle alle gerne länger bewahren würden: Jugendlichkeit, Erneuerung, Neugier, Schönheit – jedes Jahr, immer wieder, als ob es das erste Mal wäre.

25. April 2019

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