Flugsimulatoren, Realitätsschnipsel und Science Fiction

Drei junge Autoren sitzen abends beim Whiskey zusammen. Es entspinnt sich eine hitzige Debatte über Plots, dramaturgische Elemente und die Länge von Texten, aus der schließlich eine Wette entsteht: einer der drei Freunde wettet, dass er eine Kurzgeschichte aus nur sechs Wörtern schreiben könne.

Der junge Autor ist Ernest Hemingway, und er gewinnt die Wette mit der wohl kürzesten Kurzgeschichte aller Zeiten:

Da steckt alles drin, was eine gute Geschichte ausmacht. Drama, Emotion, Leben und Tod – das volle Programm.

Jede gute Geschichte lebt von diesen Zutaten. Egal worum es geht, wer die handelnden Personen sind, wie lange die Geschichte ist und wo und wann sie spielt: alle erzählenswerten und überzeugenden Spielarten von Stories verbindet eine Struktur des Konflikts. Es geht um Herausforderungen und Probleme, mit denen sich Menschen herumschlagen und die sie zu überwinden suchen – eine unerwiderte Liebe, der Gute, der gegen böse Mächte kämpft oder, wie in Hemingways Mikro-Geschichte, Schicksal und Tod. Konflikte sind der Treiber von Geschichten; ohne Konflikt bleibt eine Geschichte blass und langweilig.

Menschen haben einen Geschichten-Generator im Kopf

Storytelling gehört zur evolutionären Grundausstattung des Homo Sapiens. Bereits am steinzeitlichen Lagerfeuer haben sich unsere Urahnen Geschichten erzählt.

Aber warum? Die Erklärung, dass das Leben einfach netter ist mit Geschichten, reicht nicht aus. Denn wenn Stories nicht mehr geboten hätten als ein wenig Klatsch und Tratsch, dann wären sie mit Sicherheit aus dem Genpool gelöscht worden. Dann hätten die Spezies überlebt, die eifrig Beeren sammeln, anstatt ihre Zeit mit Geschichten am Lagerfeuer zu verplempern.

Geschichten sind Flugsimulatoren

Warum also konnte sich das Storyteller-Gen in unserem Erbgut bis heute halten? In der Forschung gibt es dazu keine eindeutigen Aussagen, überzeugend finde ich aber die These, dass mit Geschichten Erfahrungen simuliert werden können, die sowohl für den Einzelnen als auch für das Kollektiv eine wichtige Funktion besitzen. Geschichten sind übersteigerte Parallelwelten unserer alltäglichen Wirklichkeit und insofern bieten sie die Möglichkeit, Konflikte und Herausforderungen durchzuspielen, die wir im normalen Alltag eher vermeiden. Etwa die Frau seines Chefs zu verführen oder als alleinstehende Mutter einen Gegenentwurf zum Weltwirtschaftsgipfel in Davos zu lancieren.

Der Literaturwissenschaftler Jonathan Gottschall charakterisiert Geschichten deshalb treffenderweise als „Flugsimulatoren“: So wie ein Flugsimulator Piloten erlaubt, gefahrlos zu trainieren, erlauben es uns Geschichten, gefahrlos die großen Herausforderungen der sozialen Welt zu trainieren.

© The Fifth Element von Luc Besson, 1997

Jenseits von Gut und Böse

Ein weiteres Strukturprinzip von Geschichten ist der Regelbruch. Man denke an die antiken Ursprungsmythen, in denen es von Verbrechen und Grenzüberschreitungen nur so wimmelt. Ödipus, Prometheus, Narziss, Antigone zeigen als Tabubrecher das Drama der Regeln exemplarisch auf. Katastrophenszenarien wie Ehebruch, Inzest, Brudermord und Familienfehden dienen der moralischen Orientierung. Sie unterstützen uns dabei, uns in der Welt zu orientieren und verweisen darauf, wie man sich als soziales Wesen benimmt – oder auch nicht. Sie zeigen uns, was passiert, wenn wir die Regeln brechen und was, wenn wir ihnen folgen.

Bis heute haben Geschichten diese Kompass-Funktion. Indem sie mit gesellschaftlichen Codes spielen, machen sie das Gewebe sichtbar, das unsere Wirklichkeitserfahrung formt.

Daten mit Seele

Ich vermisse Geschichten, die sich mit den großen Themen unser Zeit befassen. Globalisierung, ökologische Krisen, Klimawandel, Migration, Digitalisierung – es gibt Unmengen an Information zu all diesen Themen. Tagtäglich prasseln auf den unterschiedlichsten medialen Kanälen die entsprechenden News und wissenschaftliche Forschungsberichte auf uns ein. Was fehlt, sind Geschichten, in denen Ängste und potenzielle Konfliktfelder aber auch Chancen und positive Möglichkeiten künftiger Entwicklungen in fiktiven Szenarien erlebt und erfahren werden können.

Viele der aktuellen oder unmittelbar bevorstehenden Veränderungen lösen gesellschaftliche Ängste und diffuse Bedrohung aus, weil die Auseinandersetzung fast ausschließlich auf einer sachlich-intellektuellen Ebene stattfindet. Oder aber die Menschen bleiben gleichgültig. Was soll das Gerede vom Klimawandel, ist doch super, wenn wir endlich wieder lange, heiße Sommer bekommen!

Sachinformationen lassen die Menschen kalt. Es gibt zu wenig Narrative, mit denen die “Große Transformation” von der alle reden, jenseits von Daten und Fakten greifbar und erlebbar wird.

© E.T. von Steven Spielberg, 1982

Science Fiction – der Stoff aus dem die (Alp-)Träume sind

Science Fiction ist eine besondere Form des oben beschriebenen Flugsimulators, denn sie entwirft Möglichkeitsräume für Zukünfte. Sie arbeitet mit Wünschen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Erwartungen und Träumen aber auch mit Alpträumen, Ängsten und Zweifeln. Sie spielt mit den uralten Mustern von Gut und Böse, von Konflikt und der Suche nach Lösungen, allerdings im Gewand des Utopischen (oder Dystopischen).

Wissenschaftliche Fiktion – das ist eigentlich die Quadratur des Kreises, aber in einer Welt des rapiden technologischen Fortschritts und der dadurch aufgeworfenen Fragen in gesellschaftlicher, sozialer, ökonomischer und ökologischer Hinsicht vielleicht doch die Königsdisziplin, die es vermag, aus Partikeln, die fremd, bedrohlich oder verheißungsvoll an den Rändern unserer alltäglichen Gegenwart auftauchen, Geschichten zu weben, in denen Zukunft als nachvollziehbares Szenario erlebbar wird…

… und vielleicht dazu animiert, dieses Szenario real werden zu lassen. Diese Idee hatte jedenfalls Ari Popper im Kopf, als er die Beratungsfirma SciFutures gründete. Die Geschäftsidee ist ebenso einfach wie schlüssig: SciFutures entwickelt im Auftrag von Unternehmen und in Zusammenarbeit mit Science Fiction-Autoren erzählerische Ansätze für angesagte Technologien, Produkte oder Services. Aus guten Ideen, Erfindungen oder technischen Innovationen entsteht Science Fiction mit unternehmerischem Praxisbezug, Ari Popper nennt das „Science Fiction Prototyping“.

Es muss allerdings nicht immer gleich ein Businesskonzept dahinterstecken. Als Zukunftsnarrative können Science Fiction-Prinzipien zum Beispiel dabei unterstützen, ethische Dimensionen künftiger Technologieentwicklung auszuloten. Speziell im Hinblick auf das gegenwärtige Thema No.1, Künstliche Intelligenz, vermag Science Fiction auf anschauliche Weise die Komplexität der dahinterstehenden philosophischen Fragen zu erörtern: Wer bin ich als Datensatz? Haben Maschinen ein Bewusstsein? Ist Intelligenz ohne Körper denkbar?

Zu diesen Fragen gibt es übrigens einen sehr empfehlenswerten aktuellen Science Fiction Thriller: Hologrammatica von Tom Hillenbrand. Die Geschichte spielt im Jahr 2088, Klonkörper sind gang und gäbe und jeder, der es sich leisten kann, scannt sein Cogit, aka Gehirn, und lädt es in einen Quantencomputer hoch. Mit Begriffen wie dem „Ein-Körper-Problem“ und dem „Descartes-Rätsel“ streut der Autor philosophische Hints aus, die ins Herz der aktuellen KI-Debatten zielen und kybernetische Metakaskaden an philosophischen und moralisch-ethischen Grundsatzfragen aufwirbeln.

Aber dazu ein andermal…

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