3-Zimmer-Wohnung am Schlesischen Tor, 390€ – irgendjemand?

Die Wohnung ist im 4. Stock, der kleine Balkon ist südwärts, so wie zwei der drei Zimmer. Im Altbau geht es oft es etwas ruppiger zu, aber das gehört zum Schlesi dazu.

Vom Balkon schaut man von oben auf den U-Bahnhof, der früher die Endstation der Linie 1 war.

Unten ist ein Gewusel von Partypeople und Kreuzberger Eingeborenen wie es sich kein Reiseführer schöner ausdenken kann. Die Wohnung selber, 90qm groß, ist etwas runtergekommen, die Wände müssten mal gestrichen werden.

Das Bad ist vor vielen Jahren “modernisiert” worden, was bedeutet, dass der Badeofen ersetzt wurde. Für die Jüngeren: ein Badeofen ist ein ca. 2m großer hohler Zylinder aus beschlagenem Kupfer (voller Wasser) der am Fußende der Badewanne steht. Unten befindet sich die Luke für das Brennmaterial (Holz, Kohle und alles was sonst so brennt) – es ist ja ein Ofen. Durch das Feuer erhitzt sich das Wasser im Zylinder darüber und nach ca. 1-2 Stunden ist das Wasser im Zylinder so warm, dass es in die Badewanne gelassen werden kann – voilà! Heute gibt es den Badeofen nicht mehr, das warme Wasser kommt aus der Wand.

Der Kachelofen im großen Zimmer zur Straßenseite ist eine der besten Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Im Sommer braucht man den ja sowieso nicht. Im Winter verrichtet er seine Dienste klaglos und zuverlässig. Wenn man den Ofen morgens ordentlich mit Briketts (keine Steinkohle!) füttert, hält er an selbst grausam kalten Tagen die Wohnung warm. Die Glut hält bis zum nächsten Morgen und reicht aus, um die nächste Ladung Briketts zu befeuern.

Auch die Balkontür in der Küche müsste mal gemacht werden. Sie schließt nicht richtig, deshalb liegt dort von innen immer ein Handtuch quer davor. Aber das ist nicht weiter schlimm. Wenn es regnet, wird es ausgetauscht, an Tagen wie diesen braucht man sowieso keins. Dann steht die Balkontür offen und von unten hört man die Stadt: die Stimmen der vielen Menschen voller Vorfreude auf den Abend und die Nacht im tiefsten Kreuzberg; die U-Bahn, die schönste Strecke Berlins, weil sie endlich über der Stadt und nicht darunter fährt; die Bushaltestelle direkt vor der Tür, die einen auch um 5 Uhr morgens bei offenen Fenster aus dem Schlaf reißt, weil der Fahrplan den Busfahrer zwingt, anzuhalten und wieder mit lautem Getöse anzufahren, obwohl niemand ein- oder aussteigen will; die Nachbarn im 3. Stock, die sich über die Lautstärke beschweren, auch wenn gar niemand in der Wohnung ist, aber dafür nichts mitbekommen, selbst wenn es sogar für unsereins akustisch grenzwertig wird; der Obdachlose, der sich im Zwischenstockwerk zum Dachboden eine Matratze hingelegt hat und sehr genau darauf achtet, unsichtbar zu bleiben; die kräftigen Jungs aus den unteren Stockwerken, die einem im Winter helfen, die Kohlen nach oben zu tragen; das Bier, dass uns danach verbindet; die geradezu provinzielle Nachbarschaft, in der man immer wieder dieselben Gleichgesinnten auf den Straßen trifft.

Im Erdgeschoss gab es eine typische Eckkneipe, mittags war sie schon gut besucht. Das Bier kostete 2 Mark und der Geruch von kaltem Zigarettenrauch strömte bis auf die Straße. Früher war dort Ernst Stresemann (der Vater von Gustav Stresemann) Schankwirt und verkaufte an der Theke Bier, Korn, Rollmops, Soleier und Eisbein.

Ich bin vor langer, langer Zeit (1987) in diese Wohnung eingezogen, wir waren eine 2-er WG. Ich weiß nicht, woran es lag, aber wir sind nicht miteinander ausgekommen. Er hatte eine passive Attitüde, hinter der er versucht hat, sich unangreifbar zu machen. Stellung beziehen, Meinung äußern, sich angreifbar machen, das sind Eigenschaften, die ich an Menschen schätze. Das war nicht seins, im Gegenteil. Je mehr ich es einforderte, desto mehr verweigerte er sich. Wir waren beide überfordert und beschlossen, dass einer von uns ausziehen muss – nur wer? Nach langen, ermüdenden Diskussionen einigten wir uns auf einen Münzwurf. Ich gewann, er zog aus.

Ich unterschrieb den Mietvertrag und sicherte mir das Recht, die Wohnung unterzuvermieten. Das kostete jeden Monat einen Aufschlag von 10 DM – zusätzlich zu den 360 DM. Ich lebte dort weitere Jahre, bis auch mich mein Leben auf andere Wege führte. In den darauffolgenden Jahren lebten in dieser Wohnung verschiedene Menschen in unterschiedlichsten Konstellationen. Auch wenn es nicht immer meine besten Freunde waren, ich kannte sie und sie mich, ein schriftlicher Vertrag war nicht notwendig. Ich war stolz und froh, mit einem steinalten Mietvertrag immer wieder (vor allem jungen) Menschen diese Möglichkeit geben zu können. Natürlich ist Ofenheizung nichts für jeden, andererseits zu dritt mitten im Hotspot für 130 € pro Nase zu wohnen, ist eigentlich etwas, was man jedem Heranwachsenden wünscht.

25 Jahre ging das so, viele „Untermieter“ kamen und gingen, es waren immer gute Menschen, es gab nie wirkliche Probleme. Sie haben sich über die günstige Miete gefreut, ich hab mich darüber gefreut, ihnen zu ermöglichen in einer eine Oase mitten in Berlin zu leben.

Die Eigentümer und Hausverwaltungen wechselten so oft, ich habe den Überblick verloren. Letztes Jahr haben die neuen Eigentümer angefangen, das Dachgeschoss auszubauen und bei einer Baustellenbegehung wunderten sich nach über die vielen Namen an meinem Briefkasten, an dem nicht einmal mein Name stand. Die Namen ergaben ein authentisches Abbild dieser Wohnung: in den vielen Jahrzehnten sind in dieser Wohnung so viele Menschen ein- und ausgegangen, sind gekommen, haben dort gelebt, geliebt und sind wieder gegangen. Es gab keine größeren Konflikte mit den Nachbarn. Ein Freiraum für die dort Lebenden, die sich ohne den Druck einer drückenden Miete finden und entfalten konnten.

Es kam wie es kommen musste: ich habe eine fristlose Kündigung erhalten. Meine Rechtsanwältin konnte den Räumungstermin noch drei Monate hinauszögern, mehr war nicht drin.

Nach 31 Jahren ist diese Wohnung nun auch wieder Teil des aktuellen Markts. Diese Wohnung hat mich mehr als die Hälfte meines Lebens begleitet. Ich hätte sie gerne als ein Relikt, einen Freiraum aus dem letzten Jahrhundert erhalten. Als eine kleine Nische, in der es möglich ist, mit möglichst wenig äußeren Zwängen zu leben. Aber vielleicht ist es auch gut, alte Sachen los zu lassen, auch wenn es schwer fällt. Ich bin mir sicher, es wird immer neue Nischen und Gelegenheiten geben. Das muss keine Wohnung am Schlesi sein, da gibt‘s ganz andere Räume.

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