Blaue Stunde

Gestern habe ich mir ein Stundenglas gekauft. Falls jemand sich jetzt fragen sollte, was das ist – eben genau das: ein Glas, durch das eine Stunde Zeit rinnt und zwar in Form von Sand, in diesem Fall, blaugefärbtem Sand. Ich hätte auch sandfarbenen Sand genommen, den gab’s aber nicht, und jetzt, wo das Ding auf meinem Schreibtisch steht, finde ich es eigentlich auch ganz schön, dass der Sand blau ist, so habe ich, wann immer ich will, meine „blaue Stunde“.

Eine Stunde lang eine Sache tun. Schreiben, Kaugummiblasen knallen lassen, Lesen, Autos zählen, den Blättern beim Fallen zusehen, die Bauarbeiter verfluchen, die die Wohnung über mir sanieren und mit ihren Vorschlaghämmern einen Höllenlärm veranstalten … Eigentlich ist es egal; was zählt, ist das Tun, sich auf eine Sache konzentrieren. Nicht Aufspringen, um mal eben die Wäsche abzuhängen, kein Blick aufs Telefon, das pingt, kein Gang zum Kühlschrank…

Meine blaue Stunde heute widme ich meinem Stundenglas. Ich mache ein paar Fotos und recherchiere im Netz, wann das Stundenglas erfunden wurde. Ich lese, dass es seit dem 14. Jahrhundert ein bekanntes Zeitmessgerät gewesen ist und eine seiner frühesten Darstellungen in dem wunderbaren Renaissance-Fresko „Allegorie der guten Regierung“ von Ambrogio Lorenzetti im Palazzo Ducale in Siena zu finden ist. Dort, wie überhaupt in der abendländischen Kunstgeschichte, gemahnt es als Vanitas-Symbol an die Vergänglichkeit von allem Irdischen.

Ich lese auch, dass sich der aus der Schiffffahrt bekannte Begriff „Glasen“ von der Sanduhr ableitet, die als Zeitmaß für die Wache auf See diente.

Und ich lerne, dass die Bezeichnung „Eieruhr“ nichts damit zu tun hat, dass mit ihr die exakt richtige Weichheit des Frühstückseis gemessen werden kann, sondern daher kommt, weil früher häufig feingeriebene Eierschalen statt Sand verwendet wurden, da diese einen gleichmäßigeren Fluss garantierten.

Schließlich erzählt mir Google, dass der Ausruf „Auf ein weiteres Glas“ eigentlich kein Trinkspruch ist, sondern vielmehr Mönche früher mit dem Drehen des Stundenglases eine weitere Predigtsequenz eingeläutet haben.

So, genug Kulturgeschichte für heute. Ich schaue auf mein Stundenglas und stelle fest, dass sich noch immer die Hälfte des blauen Sandes im oberen Teil des Glaskolbens befindet. Irre, wie viel Zeit in eine Stunde passt! Ich werde jetzt trotzdem aufhören mit dem Schreiben und den Rest meiner blauen Stunde in die blaue Stunde draußen schauen.

« »