Alle zwei Jahre unternimmt die Architekturwelt auf der Biennale in Venedig eine Standortbestimmung und Selbstvergewisserung unter einem bestimmten Themenmotto. Dieses Jahr ist es Freespace. Das hört sich erstmal gut an, irgendwie offen aber auch politisch, und wir waren neugierig zu erfahren, was die beiden Kuratorinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara angesichts der fortschreitenden Verstädterung unseres Planeten und der zunehmenden Ökonomisierung städtischer Lebensräume aus dem Thema gemacht haben. Also flogen wir los.
1. Es gibt keinen Freespace in Venedig
Wir kamen nachmittags am Flughafen an, nahmen das Transfer-Boot zur Lagune und rollten unsere Koffer zu unserem kleinen Hotel in Cannareggio, weit weg vom Touristenrummel. Wir waren schon öfter in diesem B&B und so freuten wir uns auf unsere Terrasse über den Dächern der Stadt, wo wir ein Glas Rotwein tranken, der Sonne beim Untergehen zuschauten und der Stadt beim Ausatmen lauschten. Und wir stellten fest: Freespace in Venedig zu thematisieren ist eigentlich schon an sich ein Paradox, denn hier gibt es nullkommanull “free space”. Wenn man vor die Tür tritt, trifft man auf zigtausende turnschuhbeschuhte Touristen, die als chinesische Reisegruppen, Kreuzfahrt-Landgänger oder jugendliche Party-People die kleinen Gassen entlang der Kanäle fluten und sich über all die malerischen Brücken wälzen, unter denen Gondoliere mit nostalgischem Strohhut-Outfit und majestätischem Blick mehr oder weniger glückliche Paare durch die Kulisse schippern. Jede/r hält sein Smartphone auf alles, denn alles ist einen Schnappschuss wert. Mit oder ohne Selfie-Stick. Venedig ist ein Themenpark, von dem alle profitieren, die hier Urlaub machen oder die daraus ein Business machen können. Für alle anderen ist es eine Zumutung. Vor allem für die normalen Venezianer, für die ihre Stadt längst zu einer zero-space-zone mutiert ist. Wer will sich seinen Weg durch den Alltag täglich aufs Neue durch Touristenströme erkämpfen? Welcher Nicht-Tourist wohnt heute noch freiwillig in feucht-bröselnden Altbauten, die nur auf dem Wasserweg zu erreichen sind, so dass jeder größere Einkauf und jeder Umzug zur Herkulesaufgabe wird? Nicht zu reden von Müttern mit Kinderwägen oder Kranken und Alten, die keine Chance haben, mit Krücken oder gar Rollstühlen von A nach B zu kommen?
Deshalb sinkt die Einwohnerzahl in Venedig kontinuierlich. An den geschlossenen Fensterläden lässt sich ablesen, wie viele der Wohnungen leer stehen bzw. von in- und ausländischen Touristen als Feriendomizile genutzt werden, deren luxuriöse Einfachheit ein profitables Alleinstellungsmerkmal schafft. Inzwischen ist jeder Dritte, der sich in Venedig aufhält, ein Tourist.
Umso erstaunter stellten wir fest, dass diese Biennale ihr Motto Freespace in keiner ihrer Inszenierungen auf den Ort anwendet, an dem sie stattfindet.
2. Freespace = Offen für alles und nichts
Überhaupt erweist sich Freespace beim Gang durch die Giardini als eher hohle Phrase. “Frei” ist da in erster Linie der Spielraum der Interpretation. Beispiel Schweizer Pavillon, wo ein junges Architektenteam der ETH Zürich einen Wohnungsgrundriss in den Pavillon gelegt hat. Der Clou dabei ist, dass die Dimensionen der Einrichtung verschoben wurden, so dass man sich wahlweise in einer Küche von Riesen wähnt oder sich durch winzige Zwergentüren quetscht. Die Tischkante ist auf Augenhöhe, die Türklinke so groß wie eine Klobürste. Das macht wirklich viel Spaß, Kinder laufen unfallfrei herum, Text oder so ist nicht nötig, denn jeder kann etwas damit anfangen und ist danach genau so schlau wie nach einem Besuch im Wachsfigurenkabinett.
Dass ausgerechnet diese resopalbeschichtete Einbauküchenästhetik den Goldenen Löwen gewonnen hat, lässt sich nur als Verlegensheitsvotum deuten. Wenn schon Phantasieräume, dann doch bitte richtig, ansonsten setzen wir uns lieber unter eine Schirmpinie und lesen Alice im Wunderland!
Die Kuratoren des britischen Pavillons, haben das Biennale-Motto wörtlich genommen und verzichteten gleich gänzlich auf eine Inszenierung des Innenraums. Außer dem Echo der eigenen Stimme erwartet den Besucher: nichts. Stattdessen wurde der gesamte klassizistische Bau eingerüstet, um auf dem Dach eine großzügige Aussichtsplattform zu installieren.
Dort kann man den Blick über die Lagune schweifen lassen und jeden nachmittag um vier wird Tee serviert, of course.
Doch was ist die Message? Mit dem Titel “Island” spielt das Kuratorenteam um die beiden Architekten Peter St. John und Adam Caruso auf den Brexit und die isolierte Lage Großbritanniens an. Die Dachterrasse signalisiert demgegenüber Offenheit und weite Perspektiven. Aber reicht das?
Es bleibt der schale Geschmack einer pompösen künstlerischen Attitüde, die auch als zynischer Kommentar zu Leerstand und Wohnungsknappheit gelesen werden kann. (Übrigens hatten die Ungarn dieselbe Idee wie die Briten, was zeigt, wie verführerisch Venedig auf Kulissenbauer wirkt!).
3. Ästhetik + Politik = encore heureux!
Trotz alledem: es gibt auch wirklich gute Beiträge! Am besten hat uns der französische Pavillon mit der Ausstellung “Infinite Places” gefallen. Die Ausstellung erzählt von 10 innovativen Orten in verschiedenen Städten Frankreichs, an denen soziale Experimente, bürgerschaftliches Engagement und Mut zu machbaren Utopien zu einer ganzheitlichen Perspektive verwoben sind. Man steht davor, liest zu dem Hausgruppenprojekt in einem ehemaligen Kloster, betrachtet die Bilder von der “Ferme du Bonheur”, einem Urban Farming-Projekt in einer Industriebrache oder studiert die Entwicklung eines sozialen Brennpunktquartiers zu einem Kultur-Hotspot.
Das Konzept stammt vom Architekturbüro “Encore Heureux” und wieder einmal zeigt sich, dass Namen auch Magie entwickeln können. Diese Projekte machen wirklich glücklich, sie zeigen, dass alternative Lebens- und Wohnkonzepte machbar sind und dass dafür ganzheitliche Ansätze zentral sind. Nicht zuletzt sind die Projekte einfach und nutzerfreundlich erklärt. Und die Idee, einzelne Relikte aus den jeweiligen Projekten an die Wände zu tackern und dem Ganzen damit einen archäologischen und ästhetischen Mehrwert zu verschaffen, ist grandios. Keine Ahnung, warum dieser Pavillon nicht einmal eine besondere Erwähnung wert war.
4. Freespace = Zwischen-Räume
Der Pavillon der USA hat uns wirklich überrascht. Man ist ja inzwischen so vertrumpt, dass man den USA kaum mehr etwas zutraut. “Dimensions of Citizenship” ist jedoch anders.
Die Ausstellung befragt, was es heutzutage bedeutet, BürgerIn zu sein und rückt dabei räumliche Dimensionen in den Mittelpunkt. Wie definiert sich eine Gesellschaft innerhalb einer Region? In welchem Verhältnis dazu steht das Konzept der Nation? Wie funktionieren Nationen im globalen Maßstab und welche Rolle spielen Netzwerke bei all dem? Aus diesen theoretischen Ansätzen hat das aus Architekten, Landschaftsarchitekten, Künstlern und Wissenschaftlern bestehende Kuratorenteam mit interaktiven Grafiken anschauliche Darstellungen entwickelt, die zeigen, wie verwoben unsere Welt im Zeitalter der Globalisierung ist und wie alles mit allem zusammenhängt: Kapitalströme, digitale Datenströme, geopolitische Veränderungen, soziale Dynamiken im Kontext von Migration und ökologische Transformationen im Anthropozän. Wer sich zum Beispiel die wandfüllende digitale Grafik zur Verteilung der nächtlichen Lichtemissionen auf der Erde ansieht, dem wird klar, wie Lichtstärke und ökonomische Power von Regionen zusammenhängen. Uns jedenfalls gingen einige Lichter auf.
Beim Rundgang durch die Giardini und das Arsenale lassen sich noch einige weitere gute Ansätze finden, in denen Architektur vor allem als sozial-gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe verstanden wird. Etwa im chinesischen Pavillon, der Entwicklungen jenseits der Mega-Metropolregionen in den Blick nimmt.
Die hier gezeigten Community-Zentren in ländlichen Gebieten stehen für eine Rekultivierung regionaler Handwerkstraditionen mit einer sozialen und ökonomischen Komponente. Gebaut mit regionalen Materialien und basierend auf tradierten Techniken z.B. im Bauen mit Holz und Bambus, schaffen diese Architekturen Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung und bieten Identifikationsangebote für entwurzelte Großstädter aus den chinesischen Megacities.
5. Freespace = Freiräume für Architekten?
Trotzdem bleibt der Eindruck von Beliebigkeit. Es gibt auf der gesamten Biennale kaum Inszenierungen, die sich wirklich mit den brennenden Fragen aktueller Stadtentwickung beschäftigen: Bezahlbarer Wohnraum, nachhaltiger Materialeinsatz, innovative Bauprojekte, neue Kommunikationsformate zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren, städtischen Kommunen und privaten Investoren? Fehlanzeige. Stattdessen fanden wir das Übliche solcher Leistungsschauen: Aufwändige Inszenierungen von internationalen Stararchitekten, selbstverliebte Retro-Blicke auf bisher Erreichtes und Entwürfe, die die Grenzen zwischen Kunst und Architektur verwischen und dabei das Beste beider Welten aufgeben. Freespace erweist sich da vor allem als großzügiger Freiraum für die Architektur-Elite, die sich mal so richtig austoben kann.
5. Freespace = öffentlicher Raum?
In den vergangenen 200 Jahren (europäischer) Stadtentwicklung stellte die Frage nach dem öffentlichen Raum ein Kernanliegen dar. Öffentlicher Raum ist dabei immer mehr gewesen als gebaute Architektur. Öffentlicher Raum war und ist Frei-Raum, ein zivilgesellschaftlicher Ort der Begegnung und des Austausch von Ideen. Welche Architekturen brauchen solche Orte, von wem werden sie geschaffen und für wen? Das sind brennende Fragen, die auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Relevanz verloren haben.
Die diesjährige Biennale hätte die Chance gehabt, unter ihrem Motto Freespace Lösungsvorschläge zu diesen Fragen zu präsentieren und Kriterien und Parameter für Stadtentwicklung im 21. Jahrhundert zur Diskussion zu stellen. Diese Chance haben die beiden Kuratorinnen vertan. Sie haben es nicht geschafft, eine Haltung zu dem zu entwickeln, was “Freiräume” unter den Bedingungen einer globalisierten, investorengetriebenen Stadtentwicklung sein könnten und sie bleiben die Antwort auf die Frage schuldig, welche (neue? andere?) Rolle Architekten zwischen den sich formierenden Interessengruppen einer urbanen community in Zeiten von Internet und social media spielen. Schade.