“Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes”
– W. I. Lenin
1920 lag das ehemalige Russland in Trümmern, das Land war technologisch hoffnungslos rückständig, in der neu gegründeten Sowjetunion wollte Lenin seine Ideologie verwirklichen. Während zur gleichen Zeit im durch den Krieg verarmten Berlin bereits ein Nahverkehrssytem existierte, z.B. mit Straßenbahnen (rein elektrisch, wie heute noch), die Firma Siemens Transformatoren in die große weite Welt exportierte und die meisten Haushalte Strom und elektrisches Licht hatten, hat Lenin die Elektrifizierung zum Staatsziel ausgerufen. Die Elektrifizierung als Heilsbringer der Modernisierung. Wie es ausgegangen ist, wissen wir.
So ähnlich wiederholt sich die Geschichte heute, wenn Politiker, aber auch Unternehmer und Stammtische die Notwendigkeit der “Digitalisierung” proklamieren. Die allgemein bewunderte Idee der “Elektrifizierung” vor 100 Jahren meinte technologischen Fortschritt, moderne Firmen und Produktivitätssteigerungen durch neue Maschinen. Tatsächlich war die größte Herausforderung, Kabel in der Erde zu verbuddeln, damit es im großen weiten Land überhaupt erst einmal Strom gab. Das Wort “Elektrifizierung” verschleierte mit der Verheißung einer großen neuen Welt, dass niemand wirklich verstand, was damit eigentlich gemeint war. So ist es heute auch – nur dass bei uns heute das Wort “Digitalisierung” heißt.
Wer heute über “Zukunft”, “Herausforderungen” und “Wandel” redet, wird beim Bullshit-Bingo auf jeden Fall die Karte “Digitalisierung” ziehen. Das ist nachvollziehbar, denn alle werden verständnisvoll nicken. Ja klar, Digitalisierung ist absolut erste Priorität. Was damit aber im Einzelnen und Konkreten gemeint ist, weiß niemand so ganz genau. Wahrscheinlich hat es irgendetwas zu tun mit Internet, Facebook, Künstlicher Intelligenz, Bitcoins, Industrie 4.0, Google, Drohnen, autonomen Autos und so was – überhaupt der ganz Rest.
“Wenn das Denken die Sprache korrumpiert,
korrumpiert die Sprache auch das Denken.”
– George Orwell
Sprache ist mächtig. Worte sind Werkzeuge, deshalb sind Worte wichtig. Mit der Wahl unserer Worte pinseln, streichen, hämmern, meißeln wir unsere Gedanken und Ideen, in der Hoffnung, dass sie andere bereichern. Wenn aber Firmen, Parteien, Politiker über “Digitalisierung” sprechen, ist es dringend an der Zeit nachzufragen, worüber sie reden.
Meine Vermutung ist, dass wenn über “Digitalisierung” gesprochen wird, die meisten keine Ahnung haben, wovon sie eigentlich sprechen. Das ist erst einmal nicht schlimm, viele Leute reden über etwas, wovon sie keine Ahnung haben. Gefährlich wird es, wenn diese Begriffe das tatsächliche Problem verschleiern.
Digital – Analog
Um zu verstehen, was “digital” ist, ist es wichtig, das Gegenteil zu verstehen. Das Gegenteil von digital ist analog. “Analog” bedeutet natürliche (im wörtlichen Sinn) Kommunikation. Jegliche Kommunikation bietet unendliche Abstufungen, Facetten, Wahrnehmungsmöglichkeiten. Analog ist, wenn im Wald das Rauschen des Windes, der ferne Ruf des Kuckucks zu hören ist, dazu der erdige, beerige Geruch von Waldboden und die Feuchtigkeit langsam von unten die fröstelnden Beine hochkriecht. All unsere Wahrnehmung, alle unsere Sinne und damit wir als Menschen sind analog. Alles was wir hören, sehen, schmecken, riechen, ertasten – in seiner Vielfältigkeit und Kombination, das alles ist analog. Sämtliche menschliche Kommunikation ist analog, also nicht nur die Wahrnehmungen, die wir empfangen, sondern auch alles, was wir senden. Wir sprechen mit unseren Stimmbändern, mit unendlich vielen Möglichkeiten und Facetten der Lautstärke, Intonation, Hei(s/t)erkeit und vielen weiteren Möglichkeiten, welche die Sprache mit Ironie, Witz, Leidenschaft oder Lüge zu bereichern. Wir hören die kleinsten Unterschiede mit unseren Ohren, bringen sie in Einklang mit dem, was wir sehen und “verstehen”. Wir Menschen kommunizieren seit Jahrtausenden in unseren differenzierten Möglichkeiten als Sender und Empfänger immer analog.
Wozu digital?
Schon immer war es ein Bedürfnis des homo oeconomicus Wertschöpfungsketten zu optimieren. Mit Gutenberg war die Vervielfältigung der Schrift möglich. Mit der Erfindung der Schallplatte konnten Musik und Ton reproduziert und damit zeit- und ortsunabhängig konsumiert werden. Ein Radiosignal ermöglichte es nicht nur einem, sondern allen Haushalten dieselbe Sendung zu hören, egal ob man an der Maas oder Memel den Volksempfänger angeschaltet hatte. Ein Faxgerät konnte auf magische Weise ein Blatt Papier in annehmbarer Reproduktion am anderen Ende der Welt zeitgleich ausspucken.
Das Prinzip dabei ist seit Gutenberg unverändert: Analoge Informationen werden auf der Senderseite in handhabbare kleine Einheiten zerstückelt und auf der Empfängerseite wieder zusammengefügt. Das Trägermedium (Papier, Schellack, Radiowellen) setzte der Genauigkeit Grenzen, die aber im Laufe der Jahrhunderte immer feiner wurden.
Den großen Quantensprung gab es Mitte des letzten Jahrhunderts mit der Erfindung der Transistoren und dann der Siliziumchips, die dann in PCs für jedermann verfügbar wurden. Seitdem ca. 1980 Personal Computer Einzug in Büros und Haushalte gehalten haben, ist immer mehr des Transportweges digital geworden. Wenn ich einen Text auf der Tastatur schreibe, ist mein analoger Anteil als Sender lediglich das Drücken der Tasten mit meinen Fingern. Danach gehen die Daten auf die Reise und kommen bei Dir auf dem Bildschirm in Form von Pünktchen (Buchstaben) auf dem Bildschirm an, die Du dann als Empfänger mit deinen müden Augen analog liest. Auf dem Weg zwischen meiner Tastatur und Deinem Bildschirm ist alles digital.
Digitalisierung ist nichts anderes als das Zerpflücken von analoger Information beim Sender in möglichst kleine digitale Einheiten, damit sie später beim Empfänger genauso wieder zusammengesetzt und so originalgetreu wie möglich wiedergegeben werden können.
Es geht überhaupt nicht um Digitalisierung.
Wir leben seit den 70er/80er Jahren des letzten Jahrhunderts in einer zunehmend digitalisierten Welt. Mit der Verfügbarkeit von Personal Computern für die breite Masse steht auch einem durchschnittlichen Haushalt die Möglichkeit zur Verfügung, einen Text auf eine Diskette abzuspeichern und zu vervielfältigen – digital. Mitte der 80er wurden Modems erschwinglich und damit die Möglichkeit, Fax-Geräte zur Übermittlung von beliebigen DIN A4-Blättern zu übertragen – digital. Und die größte digitale Revolution (heute heißt das natürlich “Disruption”) war die Erfindung der CD. Bis auf den Anfang (Mikrofon) und das Ende (Lautsprecher) war nichts mehr analog, die gesamte Wertschöpfungskette dazwischen wurde digital. Es gibt seit 20 Jahren keinen Bereich, dessen Transportwege nicht digital sind – alles ist digital.
Aber was meinen die Leute , wenn sie von Digitalisierung reden?
Es sind drei Missverständnisse, die unter der Vokabel “Digitalisierung” verbreitet werden:
Infrastruktur
Damit ist gemeint, dass auch die noch immer Unwissenden (a.k.a. Tal der Ahnungslosen) endlich auch Kabel gelegt bekommen. Es geht dabei tatsächlich “nur” um Kabel in der Erde. Vergleichbar mit der Aussage: “Wir sind für Motorisierung, deshalb bauen wir nach Freital eine befestigte Straße.” Das hat mit Digitalisierung so viel zu tun wie ein Auto mit einer Straße: Ohne Straße keine Autos – ohne Kabel keine Daten. Eine solche Zukunftsplanung erschöpft sich in Bauarbeitern, die Kabel in der Erde versenken.
Computerisierung
“Wir müssen alle Schulen/Unis mit Computern ausstatten.”
“Unser Polizeifunk muss abhörsicher werden.”
“Unsere Verwaltung muss effektiver werden.”
Wieder geht es nicht um Digitalisierung, sondern darum, dass Geräte oder Anwendungen die längst vorhandenen Möglichkeiten auch anwenden. Dazu muss eine vorhandene Infrastruktur (Kabel, Computer, Software) so aufeinander abgestimmt werden, dass am Ende etwas Effektiveres heraus kommt als ohne die digitalen Transportwege. Leider ist es oft so, dass die Umsetzung so dilettantisch ist, dass jeder zu bemitleiden ist, der einen Antrag auf Kindergeld stellen muss oder von seiner Bank Auskünfte über eine bestimmte Abbuchung einholen will. Dieses Defizit hat allerdings nichts mit Digitalisierung zu tun, da alle Transportwege längst digital sind, sondern mit der Anwendung von Computern und Software.
Neue Technologien
Facebook, Bitcoin, autonomes Fahren, o.ä.: Neue Geschäftsmodelle oder Technologien werden gerne unter dem Wort “Digitalisierung” pauschalisiert. Die Gemeinsamkeit reduziert sich bei genauem Hinsehen nur auf die digitale Infrastruktur. Tatsächlich besteht die Herausforderung darin, die Auswirkungen und Fragestellungen die durch die neuen Zukunftsmodelle entstehen, zu hinterfragen und ggf. zu steuern. Wer hierbei noch von “Digitalisierung” spricht, verkennt, welche große Fragen noch ungelöst sind.
Es geht nicht um Digitalisierung, es geht um die Daten
Wenn die “Digitalisierung” also nur den Transportweg betrifft, warum ist sie dann eine solche Bedrohung, Verheißung, Schimäre? Weil der Begriff falsch ist. Es geht nicht darum, dass alles digital wird (das ist es schon seit 20 Jahren), sondern um eine neue Dimension der Verarbeitung.
Um das zu veranschaulichen, gibt es die bekannte Geschichte des Reiskorns und des Schachbretts. Die Schachbrettgeschichte geht so: Nach einer verlorenen Partie Schach gewährte der König seinem Kontrahenten einen Wunsch. Der Sieger wünschte sich Reiskörner auf das Schachbrett, und zwar auf das erste ein Reiskorn, auf jedes weitere jeweils die doppelte Menge. Das waren also beim zweiten 2 Körner, beim dritten 4 Körner, dann 8, dann 16 usw… Ein Schachbrett hat 64 Felder: Auf dem 64. Feld hatte der Schachspieler soviel Reis gewonnen, wie es das ganze Königreich in keiner Ernte würde aufbringen können (Umgerechnet auf heute hätte sein Gewinn die 1200-fache weltweite Ernte des Jahres 2004 betragen).
Diese Entwicklung gibt es auch bei den Computern, bzw. der Prozessorgeschwindigkeit.
Seit der weiten Verbreitung von Computern in Haushalten vor 40 Jahren haben sich die digitalen Prozesse kaum verändert. Statt eines Fax gibt es E-Mails, statt einer CD gibt es mp3, statt eines Festnetztelefons gibt es Mobiltelefone. Das sind – jedes für sich genommen – große Verbesserungen, weil es schneller oder bequemer geht. Aber am Ende des Tages bleibt es dabei, man kann nur Texte (bzw. Dateien) versenden, Musik hören oder telefonieren.
Neu ist seit ca. zehn Jahren etwas anderes, nämlich der sprunghafte Anstieg der Verarbeitungsmöglichkeiten dieser digitalen Daten. Seit 1975 hat sich die Geschwindigkeit der Verarbeitung ungefähr alle zwei Jahre verdoppelt. Lange Jahre bedeutete das einfach nur Schneller-Weiter-Höher, denn jeder hat sich darüber gefreut, wenn die Sanduhr auf dem Computer seltener wurde. Seit ca. 2005 sind die PCs kaum spürbar schneller geworden, die Rechenpower hat sich trotzdem weiterhin verdoppelt. Parallel dazu haben neue Technologien einen zweiten Flaschenhals öffnen können: die Speicherkapazität. Waren vor 10 Jahren Festplatten mit 1 Gigabyte die teure Ausnahme, ist heute Terabyte (=1000 Gigabyte) die übliche Dimension.
Wenn wir die Prozessorgeschwindigkeit in Reiskörner zählen wollen: Aus dem einen Reiskorn von 1975 waren vor zehn Jahren bereits 130.000 Reiskörner geworden. Das war damals die Geburtsstunde von Computern (Smartphones) mit denen man auch telefonieren und fotografieren konnte – jeder kennt das. Heute sind wir bei Schachfeld 24, und um die Prozessorgeschwindigkeit abzubilden brauchen wir nun 16 Millionen Reiskörner.
In zwei Jahren werden es 32 Millionen sein, das 25-fache der Power von vor zehn Jahren! Und diese Entwicklung wird sich noch beschleunigen: In wenigen Jahren werden Quantencomputer verfügbar werden, die millionenfach schneller arbeiten als heutige Computer.
Warum ist es gefährlich, wenn im Unverstand von “Digitalisierung” geredet wird?
Weil es verschleiert, worin die tatsächlichen Herausforderungen liegen.
Wir leben heute, 2018, in einem Zeitabschnitt, in dem viele sicher geglaubte Werte und Sicherheiten in Frage gestellt werden oder leichtfertig aufgegeben werden.
Umso wichtiger ist es, dass wir daran glauben, dass wir die Zukunft gestalten können. Und dazu gehört zu verstehen, was es mit der “Digitalisierung” auf sich hat. Denn für unsere Zukunft müssen wir uns nicht mit der Digitalisierung beschäftigen, sondern mit der Anwendung und Gestaltung der neuen vorhandenen Möglichkeiten.
Die beiden enormen Veränderungen, einerseits Prozessoren die so schnell sind wie nie zuvor, und andererseits Speicher, die Datenmengen in unvorstellbaren Mengen bereithalten, haben dazu geführt, dass wir heute vor Herausforderungen stehen, die völlig andere sind als vor zehn oder 20 Jahren: “Artificial Intelligence” (was übrigens nicht mit dem deutschen Wort “Intelligenz” zu übersetzen ist, aber das ist eine andere Geschichte…), die Polarisierung und Fragmentarisierung der Gesellschaft, die Globalisierung, die Neuordnung der Arbeitswelt,… Diese Zukunftsaufgaben sind Effekte der Digitalisierung im Sinne einer unaufhörlichen Dynamisierung von Entwicklungen, die sich wechselseitig verstärken und zu Rückkoppelungseffekten führen, zu deren Komplexität und Geschwindigkeit wir bislang nur bedingt Lösungen und Antworten gefunden haben. Wer diese Effekte unter dem Begriff “Digitalisierung“ subsumiert, verharmlost und verschleiert deren Komplexität – und hat genauso viel verstanden wie Lenin, als er das russische Reich elektrifizieren wollte.
Gero Seelig
3. Februar 2018 — 13:15
Ah, Frieder, nicht schlecht. Ich nehme mir Deinen Titel zu Herzen in Zukunft. Jetzt wünsche ich mir einen zweiten Text von Dir über den Rest: Lenin sprach ja nicht nur von Elektrifizierung, sondern auch von der Sowjetmacht, die er erst noch (mit grässlichen Mitteln) durchsetzen musste. Auf unseren Fall übertragen: Auch wer von Digitalisierung spricht, hat noch einen zweiten Zweck. Nicht gerade die Sowjetmacht, obwohl das wahrscheinlich alles aufs Gleiche hinauskommt. Also diese hidden agenda der Macht, die gar nicht mal so hidden ist, wäre natürlich ein riesiges Thema. Mit dem wir ja alle auch ringen, wenn wir mit unserem Smartphone Daten über uns selbst sammeln und abliefern…
Jedenfalls lese ich Wongchong always very gerne. Herzliche Grüße! Gero
Frieder
3. Februar 2018 — 23:16
Lieber Gero,
Danke für Deinen Kommentar! Ich wünschte alle Leser würden mal etwas von sich geben, umso mehr freue ich mich, dass Du so ausführlich antwortest.
Während ich mich mit diesem Text etwas gequält habe, musste ich immer wieder mich begrenzen und habe deshalb die spezielle Thematik der Konsequenzen außen vor gelassen. Mir ging es erst mal darum zu thematisieren, dass das Vokabular eine wichtige Rolle spielt. keine Angst, ich hab schon viel aufgestaute Ideen zum „zweiten Text“. Der nächste wird aber etwas leichter sein…
Liebe Grüße zurück!
Lena Lessing
9. März 2018 — 17:55
Bin erst heute Eurem Blog beigetreten und bin beeindruckt von dem Wissen, was ich hier präsentiert bekomme. Ich bin eine der Unwissenden, die z.B. die Digitalisierung pauschal und oberflächlich bislang betrachtet und das Wort benutzt hat. Daher muß ich mir den Beitrag noch einmal durchlesen, damit ich auch sicher bin, alles verstanden zu haben. Am besten hat mir die Reiskornvermehrung auf dem Schachbrett gefallen. Kannte ich auch noch nicht. Wenn ich höre, dass es jetzt einen Posten für eine Ministerin für Digitalisierung gibt, dann kann ich mir jetzt ein klitzekleines bisschen mehr darunter vorstellen als vorher. Wieder was gelernt!