Heute ist ein besonderer Tag. Zum ersten Mal seit 30 Jahren bedaure ich es ernsthaft, nicht an einer Demonstration teilnehmen zu können. Denn ich sitze zuhause und muss auf den Techniker warten, der meinen neuen Internetanschluss freischaltet. Die Verabredung steht seit Wochen und ich kann es mir einfach nicht leisten, das nochmal auf Wochen zu verschieben. Deshalb will ich wenigstens einen gedanklichen Beitrag zu diesem Streik leisten, indem ich meine normale Tätigkeit am Schreibtisch für eine Stunde aussetze und ein paar Überlegungen zum Klimastreik aus meiner Sicht aufschreibe.
- Ich finde es großartig, dass das Engagement der jugendlichen “Fridays for Future”-Aktivisten nun (endlich) auf uns Erwachsene überschwappt. Also auf all die Menschen, die geübt darin sind, Sachverhalte nach unterschiedlichen Perspektiven aufzudröseln, mögliche Problemstellungen in langen Diskussionen mit den jeweiligen Pros und Cons abzuwägen – um am Ende in einen Zustand der Agonie zu kippen und das Problem zu vertagen.
- Heute wird etwas getan. Die Aktivitäten in Städten und Kommunen überall auf der Welt zeigen, dass der Zustand der Erde uns alle betrifft. Dass wir alle aufgerufen sind, unsere Lebensgrundlagen zu schützen und dass es darum geht, ein Zeichen zu setzen. Dieses Zeichen ist zuallererst und vor allem ein Stop-Schild gegen das Weiter-wie-bisher.
- Wie die Zukunft aussehen kann, wie die unterschiedlichen Interessenlagen versöhnt und zu neuen Möglichkeiten entwickelt werden können, ist nicht Gegenstand dieses Streiks. Allerdings kann von hier aus mit “vereinten Kräften” weitergedacht und agiert werden. Alle Sektoren, d.h. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind aufgerufen, neue Instrumente und Handlungspraxen zu (er-)finden, die geeignet sind, den Klimawandel aufzuhalten. Und zwar heute, hier und jetzt. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Aus diesem Grund sollte, muss der Streik als eindringlicher Weckruf funktionieren.
- Der Klimawandel ist real. Er ist aber auch eine Metapher für fehlgeleitete Entwicklungen in einem Wirtschaftssystem, das auf Wachstum angelegt ist und dabei jede Ausbeutung von Ressourcen billigend in Kauf nimmt. Der Zustand der Erde zeigt, dass unsere auf ökonomischen Parametern basierenden Vorstellungen von Wachstum nichts zu tun haben mit einem natürlichen Wachstumsbegriff, der auf einem zyklischen Modell von Werden und Vergehen basiert. Die Natur lehrt uns wie Kreislaufwirtschaften funktioniert: Die Natur produziert keine Abfälle. Wenn im Herbst die Blätter fallen, dann werden diese zu Humus, der im nächsten Jahr zum Nährboden für ein neuerliches Austreiben der Bäume wird. Die Natur schützt ihre Ressourcen. Genau das beinhaltet der Begriff “Ökologie”, der im ursprünglichen Sinne eine “Haushaltslehre” meint, also ein ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen. Unsere Wachstumsgesellschaft hat diese Ausgewogenheit längst verloren.
- Das Prinzip der “freien Marktwirtschaft” ist kein Naturgesetz, sondern Ergebnis der vergangenen 150 Jahre. Es gründet auf den Errungenschaften der Industriellen Revolution und dem Glauben an eine allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse durch Technik. Das hat viele Jahrzehnte funktioniert, doch inzwischen tritt die Kehrseite dieser Entwicklung überdeutlich zutage. Deshalb brauchen wir dringend Modelle, wie Wirtschaft in Zukunft funktionieren kann. Ideen und Best-Practice-Beispiele dafür gibt es genug. Diese müssen Schule machen!
Während ich dies schreibe, brettert ein Convoi aus Ferraris hupend durch die Straße vor meinem Haus. Zusammen mit den Abgasen der hochtourig heulenden Motoren dringt die geballte Aggressivität dieser Mobilitätsaktivisten nach oben in meine Wohnung und verschlägt mir den Atem. Auch das gehört zu diesem Streik. In seinem Schatten lauern all die Widersprüche und Ambivalenzen, mit denen wir als gesellschaftliche Akteure in Zukunft umgehen müssen. Es wird nicht leicht. Aber genau dieser Umgang mit den Ja-abers und sowohl-als-auchs wird zur Schlüsselkompetenz für künftige Entscheider. Wir müssen üben, dass es für komplexe Herausforderungen keine einfachen Like oder Dislike-Optionen gibt und stattdessen lernen, mit Ambiguitäten und Widersprüchen umzugehen, ohne ins Koma des Nicht-Tuns zu verfallen. Weg von der monologischen Suche nach Eindeutigkeit hin zu einer Pluralität des Möglichen. Wir haben nur diesen einen Planeten. Deshalb sollten wir uns kümmern, be-herzt und mit Verstand.
Britta Weißer
30. Oktober 2019 — 12:36
Stimmt