Ostern in Italien. Nichts Besonderes sollte man meinen, immerhin gibt es das auch bei uns. Aber Ostern in Italien geht anders. Das liegt nicht nur daran, dass Ostern hier eigentlich bereits am Palmsonntag beginnt und sich mit diversen Aktivitäten über die gesamte Karwoche erstreckt und es liegt auch nicht daran, dass die Ostereier größer sind (obwohl das ein durchaus ins Auge fallender Unterschied ist, auf den ich später noch zurückkommen werde).

Den entscheidenden Unterschied machen die Oster-Prozessionen insbesondere in den südlichen Regionen aus, bei denen sich der ausgeprägte Hang zum Drama und die Liebe zur Inszenierung zu einem emotional wuchtigen Gesamtpaket verschnüren. Klar, diese Regeln kennt man auch aus den katholischen Regionen Deutschlands. Ich bin selbst in so einer katholischen Enklave in Süddeutschland aufgewachsen und war als protestantisch erzogene Atheistin immer neidisch auf dieses Gedöns mit Weihrauch, hellblau-rosagewandeten Madonnen mit Goldrand und hübschen Ministranten in Spitzenkleidern.

All das ist allerdings nichts, rein gar nichts gegen den Prozessionskult hierzulande!

Gestern waren wir in Taranto, der Stadt am Ionischen Meer, die eigentlich vor allem wegen ihrer Umweltskandale bekannt ist, die sie der ebenso riesigen wie menschenverachtenden ortsansässigen Stahlindustrie verdankt. Außerdem hat Taranto einen ebenfalls ziemlich großen Militärhafen, der aufgrund der günstigen geostrategischen Lage auch als Natostützpunkt genutzt wird.

Einmal im Jahr machen diese eher negativen Superlative der Stadt jedoch einem Spektakel Platz, das Taranto zum must-go für alle Christen, Pilger und Prozessionsliebhaber macht. Zur Osterzeit finden dort nämlich nicht nur die hinsichtlich Kostümierung und Setting am aufwändigsten inszenierten Prozessionen statt, sondern auch die mit der zeitlich längsten Dauer. Die erste startet bereits am Gründonnerstag um Mitternacht und schlängelt sich dann in einer kaum vorstellbaren Langsamkeit durch die Gassen der langsam verfallenen Altstadt bis sie, ca. 14-16 (!!) Stunden später an der Chiesa di Santo Domenico endet.

Wir kamen am frühen Nachmittag aus Nardò an und erlebten das Ende der Prozession live mit – wobei “live” nicht ganz das richtige Wort ist, denn die Protagonisten waren inzwischen – nach 14 Stunden Dauereinsatz – so erschöpft, dass nicht genau auszumachen war, ob ihr leicht hin- und herschunkelnder Gang noch Teil der Choreografie war oder bereits einen Schlafwandlermodus anzeigte.

Über dem Ganzen lag eine große Konzentration und Ernsthaftigkeit. Die Gesichtsmasken von manchen der Büßer hatten feuchte Stellen – offenbar vom Weinen – andere liefen barfuß; einem tief gebeugt schlurfenden Jesus musste das schwere Holzkreuz vom Rücken genommen werden.

 

Es war eine unglaubliche Szenerie: lauter kostümierte und komplett vermummte Gestalten in Schwarz-weiß laufen durch die Gassen. Am Rand stehen Zuschauer – die meisten davon Tarantinos; Familien, Alte, Junge und vereinzelt Touristen wie wir.

Auf den ersten Blick fühlt man sich an einen Karnelvalsumzug erinnert, aber die Assoziation verschwindet schnell, denn tatsächlich handelt es sich um das komplette Gegenteil. Statt der tschingderassa-Fröhlichkeit umgibt den Umzug eine tiefe Trauer. Selbst für uns, die wir damit überhaupt nichts zu tun haben, vermittelt sich die getragene und gedrückte Stimmung. Kaum jemand spricht, die Gesichter der Zuschauer sind ernst, immer wieder sehe ich weinende Menschen.

Zu der traurig-melancholischen Stimmung tragen die beiden die Prozession begleitenden Blaskapellen bei. Wer jetzt allerdings musikalisch in Richtung Marschmusik oder Oktoberfest ausschwenkt, liegt völlig falsch. Ich fühlte mich eher an die Musik aus den Mafia-Filmen von Scorcese oder dem Paten erinnert. Irgendwas zwischen Melodram und beschwörender musikalischer Messebegleitung.

Überhaupt hatte die gesamte Prozession viel von einer filmischen Inszenierung. Die Maskeraden, das harte Schwarz-weiss und, nicht zu vergessen, die Dramaturgie.

Am Anfang des Zuges kommt die Musik. Sozusagen zur Einstimmung. Dann folgen die Büßer in ihren schwarz-weißen Kostümen, die aussehen, als hätte sich der Ku-Klux-Klan Kardinalsroben übergeworfen. Die Büßer treten immer paarweise auf, so können sie sich in ihrer Trauer stützen, aber auch in ihrer Erschöpfung (was sich nach 15 Stunden für den einen oder anderen tatsächlich als hilfreich erwies).

Danach kommen ein paar Jesus-Figuren, erkennbar am Kreuz auf dem Rücken.Im Anschluß nochmal Büßer, nochmal Jesusse und schließlich eine zweite Kapelle. Diese sorgt für eine passgenaue akustische Kulisse für das, was dann folgt und den absoluten Höhepunkt und zugleich Abschluss der Prozession bildet: die Mater Dolorosa, die Schmerzensmutter, ganz in Schwarz gekleidet, thronend auf einer Sänfte, von gläsernen Kerzenlüstern umrahmt und in der Hand ein tiefrotes, von einem Pfeil durchbohrtes Herz.

Sechs tiefernst dreinschauende Träger haben die Ehre, die Schmerzensreiche zu tragen. Totenstille umgibt sie. Manche Zuschauer bekreuzigen sich, andere versuchen, die Sänfte zu berühren, um wenigstens ein bisschen von der Aura abzubekommen.

Und dann, irgendwann am Ende dieses stundenlangen und kräftezehrenden Büßerpfades biegt die Sänfte schließlich ab und verschwindet in einer Chiesa.

Wie im Kino am Ende eines Films kehrt erstaunlich schnell die normale Geschäftigkeit zurück. Es gibt ein kurzes Gedränge, dann löst die Menge sich auf.

Es ist absolut irre, wie gekonnt die katholische Kirche sich der suggestiven Wirkung von Ritualen bedient. Symbolkräftige Bilder, eingängige Geschichten, Weihrauch, Musik und einfachste Handlungen, die unbeirrt immer und immer wieder wiederholt werden: das ist der Stoff, aus dem Mythen gewebt sind. Multisensuell und mit einfachen Botschaften gehen sie direkt ins limbische System. Vorbei an all den Ratio-Schranken und intellektuellen Wächtern in unserem Gehirn, die wir uns in zigtausenden Jahren Evolutionsgeschichte mühsam antrainiert haben. Und da sitzen sie dann und tun ihre Wirkung – for better or worse. Mir kam die Prozession in Taranto jedenfalls wie eine kollektive Katharsis vor. Man befreit sich im Ritual von seinen Sünden und vergewissert sich zugleich als Mitglied der Gemeinschaft.

Die katholische Kirche wäre allerdings nicht die katholische Kirche, wenn sie aus diesem menschlichen Grundbedürfnis nicht auch Profit schlagen würde. Bei der Prozession darf nämlich durchaus nicht jeder mitlaufen, sondern man muss sich regelrecht einkaufen. Jedes Jahr am Palmsonntag werden die einzelnen Kostüme mitsamt ihren entsprechenden Rollen versteigert. Mit Preisen bis zu 100.000 € lassen es sich die Honoratioren der Stadt Einiges kosten, um die Madonna oder die Christusstatue 15 Stunden durch die Stadt tragen zu dürfen. Allemal ein sehr einträgliches Geschäftsmodell für die Bruderschaft, die den Prozessionszug organisiert!

Wenn sich der katholische Prozessionskult als Verbindung aus Ritual, Theatralik und Inszenierung plus Kommerzialisierung begreifen lässt, dann stellt sich die Sache mit den Ostereiern in Italien als Verbindung aus Kommerz, schlechtem Geschmack, viel Übertreibung und wenig Inszenierung dar.

Es gibt große, ziemlich große und gigantisch große Ostereier im Salento. Kleine gibt es nicht. Ebensowenig gehört der Osterhase zum süditalienischen Brauchtum. Und das Ostereier-Suchen übrigens auch nicht – bei der XXL-Größe der italienischen Ostereier wäre das Verstecken auch eher schwierig.

Buona Pasqua!