Als wir vor knapp zwei Wochen in Bari aus dem Flugzeug stiegen und unsere grauen Wintergesichter blinzelnd der Sonne entgegenreckten, während am Ende des Rollfelds ein Dutzend akkurat aufgereihte langgewachsene Palmen uns wie ein baumgewordenes Cheerleader-Empfangskomitee entgegenwinkte, schossen mir zwei Dinge durch den Kopf: Heute endet der Winter, und: Das ist der Süden!
10 Minuten später am Mietwagenschalter lernte ich, dass zumindest die zweite Aussage relativiert werden musste. Die nette Service-Senora war durchaus überrascht, wie lange wir ein Auto mieten wollten – per tutto il mese???? – und erkundigte sich daraufhin sehr interessiert, was wir denn vor hätten und vor allem wo??!! Als ich ihr erklärte, wir wollten für einige Wochen nach Nardò, wegen Schreiben, aber auch wegen der Landschaft und so, zog ein verständiges Lächeln über ihr Gesicht: Ah, bene, volete viaggare nel Sud!
An dieser Stelle wurde mir klar, dass der Süden, also der wirkliche, der südliche Süden, für die Italiener erst südlich von Bari beginnt. Und in den folgenden Tagen wurde mir noch etwas klar, nämlich dass der schönste Teil dieses südlichen Südens “Il Salento” ist: die Halbinsel, die zwischen dem ionischen Meer und der Adria gelegen, den Absatz des italienischen Stiefels bildet.
Il Salento – das klingt nach weicher Sommerbrise am Meer, ein bisschen romantisch und ein bisschen rauh, melodisch dahin rollend wie das italienische “R” nach einem Glas Rotwein, allerdings durch das kurze “o” am Ende auch mit abruptem Abgang.
Und genau so ist der Salento auch. Wunderbar widersprüchlich und schwer zu greifen. Auf der einen Seite Landschaften wie auf einer Kodacolor-Kitschpostkarte der 60er Jahre mit uralten Olivenhainen und quietschtürkisfarbenem Meer, auf der anderen Seite leergefallene Ortschaften, mit zugenagelten Fenstern, bröselnden Fassaden und Schaufenstern, deren Auslagen seit 20 Jahren vor sich hinbleichen.
Auf der einen Seite Architektur aus allen wichtigen europäischen Kulturepochen der letzten tausend Jahre: Renaissancepaläste, deren brachiale Rustica-Geschosse, akanthusverzierte Säulen und Balkonbrüstungen vom Statusbewusstsein der neureichen Patrizier erzählen. Barocke Kirchen mit diesen typisch süditalienischen zuckerbäckrigen Verzierungen, die sich wie Wülste über alles legen, was einmal Ecken und Kanten hatte.
Und, sehr besonders, die wenigen überlebenden romanischen Kirchen, die sich allen Moden erfolgreich widersetzt haben und nun gedrungen und stolz einfach da stehen, während das Leben auf der Piazza sie umtost. Dieser Überdosis an Geschichte stehen die schnell hochgezogenen Nullachtfünfzehn-Würfelhäuschen und Stahlbetonskelette in zersiedelten Landschaften gegenüber. Als Relikte vergangener Baubooms und Spekulationsblasen verweisen sie auf die dunkle Seite der Macht.
Es gibt offenbar auf kommunalpolitischer Seite keine größeren Ambitionen, diese Widersprüche im Sinne eines zeitgemäßen Tourismusmarketings irgendwie glattzubügeln oder zumindest profitabel zu machen. So liegen die Widersprüche einfach rum, und jeder Fremde stolpert darüber – und holpert sich dann irgendwann und irgendwie seine eigene Geschichte zurecht.
Und genau das mag ich an dieser Gegend. Sie zwingt einem nichts auf, sie macht sich nicht zurecht, um irgendeinem Klischee zu entsprechen. Sie ist einfach das, was der Fall ist (obwohl mit Wittgenstein hier wirklich niemand was am Hut hat).
Zu dem, was der Fall ist, gehört übrigens und ganz entscheidend auch der Wein. Auch hier erstmal großes Erstaunen: Apulien gehört zu den ältesten und größten Weinbauregionen der Welt!? Da horcht die Hobbywinzerin aus Brandenburg auf.
Schon die Phönizier und die Griechen priesen die Ebenen Apuliens, wo “ewiger Frühling” herrscht und der Wind den Duft von gleich zwei Meeren in die Trauben bringt. Wein und Olivenöl gehörten denn auch während der letzten beiden Jahrtausende zu den ewig sprudelnden Quellen der Region. Bis zur Jahrtausendwende war der lokale Wein allerdings außerhalb der Landesgrenzen nahezu unbekannt. Das ändert sich, seitdem vor allem junge Winzer das Potenzial der alten und zum Teil autochthonen Rebsorten wie Primitivo, Negroamaro, Uvo di Troia und, naturalmente, den Salice di Salento wiederentdecken. In den lokalen Supermärkten kann man sie alle kaufen – und wahrscheinlich auch in all den noblen Weingütern, die auf Webseiten beschrieben werden, die wir aber in echt und live bei unseren Spritztouren bislang nicht gefunden haben. Die meisten der alten Weingüter und großen Gutshäuser – die sogenannten Masserie – stehen inzwischen leer oder beherbergen edle Wellness-Resorts. Keine Ahnung, wo der salentinische Wein gekeltert wird. Vielleicht doch eher oben im Norden, in der Gegend um Bari?
Hier unten jedenfalls ist die Landflucht überall spürbar. Die Apulierinnen und Apulier sind seit hundert Jahren in die ganze Welt gewandert, vor allem aber nach Nord- und Lateinamerika, Kanada und Australien. Bis heute verlassen bis zu 20.000 Pugliesen jährlich ihr Land – auf der Suche nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen. Kein Wunder bei einer Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 %!
Viel Platz also für Touristen, die auch in diesem Jahr die Halbinsel wieder fluten und mit ihren omnipräsenten Sommerhits am Strand, in den Bars und in den Gässchen einen akustischen Terroranschlag auf die meditative Gelassenheit der Meeresbrandung unternehmen werden. Übrigens: einer der ersten ohrwurmigen Sommerhits war „Volare“ von Domenico Modugno, der – wie könnte es anders sein – aus Polignano a Mare stammte, einem kleinen Fischerdorf südlich von Bari.
Im Moment allerdings ist hier noch alles sehr still, um nicht zu sagen gottverlassen. Mal sehen, was hier los ist, wenn nächste Woche die Osterprozessionen durch die Dörfer ziehen. Die Deko in Nardò jedenfalls lässt Einiges erwarten!
Lena Lessing
23. März 2018 — 10:29
Das hast du so plastisch un sinnlich beschreiben, dass ich große Lust bekomme, sofort auch da hinzufahren. Die Fotos sind brillant und herrlich anzuschauen in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit. Ich mag vor allen diese dicken Putten an den Fassaden der Kirchen, die dort ihren Schabernack treiben. Es wird mir ganz bang wenn ich daran denke, wie dieses paradiesisches Land immer mehr zerfällt, weil die Gier und Korruption sich nicht stoppen lässt. Umso schöner was du vom Land eingefangen und uns mitgebracht hast.
Hier ist es leider immer noch kalt, windig und nass….
Anja
23. März 2018 — 14:09
So ein schöner Kommentar, danke, liebe Lena!
Ja, das Land ist wunderbar. Man kann nur hoffen, dass die junge Generation mutig genug ist, aus dem Potenzial was zu machen.