Deep Learning Laufen
Wandern in Bhutan, Joggen in Berlin. Außer dem B ist alles anders. Straßenschluchten statt Himalaya, gräuliche Kälte statt sonniger Wärme. Irrwitzige Geschäftigkeit statt buddhistischer Gelassenheit, Alltag statt Urlaub …
Trotzdem, ich liebe das Laufen, immer schon. In den letzten Jahren haben mich meine 2-3mal wöchentlichen Laufstrecken durch den Gleisdreieckpark oft gerettet – vor vermeintlich unlösbaren Problemen, die nach einer Stunde Laufen immer auf angenehme Weise irgendwie zerbröselten, vor akutem Energieloch nach viel zu kurzen Nächten und immer und immer wieder vor zu viel Stress – im Job, im Privatleben als Mutter und überhaupt. Nach dem Laufen gehts mir eigentlich immer gut. Auf jeden Fall immer besser als vorher. Oft kommen mir beim Laufen auch die besten Ideen.
Ich bin überzeugt davon, dass das an der wiederhergestellten Verbindung von Körper und Geist liegt (klingt banal, ist aber eine tiefe Einsicht!). Alles was dazwischen liegt, hat sich dann auf wunderbare Weise wieder sortiert.
Alles passt.
Vor einigen Jahren habe ich damit angefangen, beim Laufen Hörbücher zu hören, manchmal Science Fiction-Krimis, oft Sachbücher. Zur Zeit ist es „Homo Deus“ von Yuval Noah Harari, diesem vielgerühmten jungen israelischen Historiker, der den Wirtschaftsbuchpreis 2017 gewonnen hat.
„Bei Anbruch des dritten Jahrtausends erwacht die Menschheit, streckt ihre Glieder und reibt sich die Augen. Die Reste eines schrecklichen Albtraums schwirren ihr noch im Kopf herum. (…) Dann macht die Menschheit sich einen Kaffee und schlägt den Kalender auf. ‚Mal sehen, was heute auf der Agenda steht.“
So beginnt das Buch, das düstere Zukunfts-Technologie-Dystopie mit dem uralten Menschheitstraum nach ewigem Leben verbindet. Also eine grandiose Lektüre beim Laufen für jemand, der als „Körperwesen“ mit digitaler Technologie und Kopfhörern ausgestattet seine Bahnen durch den urbanen Dschungel pflügt.
Harari prognostiziert das Ende des Humanismus und den Beginn einer neuen Epoche, die er Dataismus nennt. Im Dataismus sind Daten und Algorithmen die wichtigste Währung. Big Data ist der Rohstoff, aus dem unsere Träume gemacht sind. Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn wenn Organismen Algorithmen sind, wie Harari im Rekurs auf die Biowissenschaften ausführt, dann folgt daraus, dass ein Algorithmus theoretisch viel besser über mich Bescheid weiß als ich selbst. In einer dataistischen Gesellschaft frage ich Amazon, welches Buch ich lesen möchte, ich gehe in die Restaurants, die mir mein Lieblings-Restaurant-Blogger empfiehlt, ich folge den Empfehlungen für neue Jobs auf LinkedIn und ich suche meinen idealen Partner auf einer Datingplattform.
Der Dataismus führt dazu, dass mein Leben, meine Wünsche, meine Sehnsüchte, meine Ängste und mein Begehren messbar werden. Ich und meine Daten werden eins in einem perfekten Feedbacksystem. Ich bin, was meine Daten mir sagen. Ein unendliches digitales Spiegelkabinett.
Verwirrt lausche ich den Sätzen Hararis und höre gleichzeitig meinen Atem, spüre den Wind, der die letzten gelbbleichen Blätter von den Bäumen fegt und meine Laufgeschwindigkeit bremst.
Was bedeutet es, wenn wir die Welt nur als codegewordenen Ausschnitt aus Möglichkeiten wahrnehmen, die wir tagtäglich in die Datennetze einspeisen, der aber um all die vielfältigen, nicht messbaren Aspekte gekappt ist, die keinen Platz haben in der Welt der Nullen und Einsen? Ein Möglichkeitsradius, der all das Unwägbare, Unsagbare, Wabernde und Ahnende ausspart, aus dem neues Wissen und neue Erkenntnisse wachsen und bei dem manchmal nur ein kleines Lächeln oder Zucken der Mundwinkel verrät, dass da mehr gewesen ist, als Zahlen und Fakten erahnen lassen?
Was ist mit meinem Körper, dieser fein austarierten Kombination aus Bewegung, aus Riechen, Schmecken, Hören und Fühlen, wenn ich schnaufend durch den Park laufe? Wo bleibt in der Logik der Algorithmen die Intuition, mit der ich mich, meinen Körper in je veränderlichen räumlichen und zeitlichen Parametern erfasse und mich meiner selbst vergewissere?
Während ich über diese Fragen sinnierend weiter meine Bahnen durch den Park ziehe, muss ich an unseren buddhistischen Reiseführer Kinley denken, der uns jedes zugängliche Kloster auf unserer Reise durch Bhutan gezeigt hat und dabei mit einer Ernsthaftigkeit, die zugleich selbstverständlich und ehrfürchtig war, versucht hat, uns Europäern die Rituale dieser Kultur verständlich zu machen.
Ich erinnerte mich an seine immergleiche Bet-Zeremonie, die er vor jedem Altar ausführte. Stets den Blick fest auf die zentrale Buddha-Statue gerichtet, faltete er seine Hände und führte sie erst an die Stirn, dann an den Mund und schließlich an die Brust. Auf unsere Frage, wofür die drei Berührungen stehen, antwortete er, die Stirn markiere den Körper, der Mund die Sprache und das Herz den Geist.
Ich war völlig perplex: Nicht nur offenbarte sich hier ein im Vergleich zur christlichen Tradition völlig anderes Prinzip der Dreifaltigkeit, in dem nicht die Seele, sondern die Sprache die Mitte zwischen Körper und Geist anzeigt. Viel erstaunlicher noch war für mich die Erkenntnis, dass im bhutanesischen Buddhismus offenbar der Kopf (die Stirn) mit dem Körper und das Herz mit dem Geist gleichgesetzt werden. Welch diametrale Umkehr der westlichen Logik!
Jetzt, beim Laufen und im Zusammenhang mit den Thesen von Harari, die durch die Kopfhörer in meine Ohren dringen, scheint mir diese zunächst ungewöhnliche Zuordnung völlig einleuchtend. Unser Bewusstsein ist mehr als ein Pool von Daten und Algorithmen, er lässt sich nicht beschränken auf die Likes und Shares, mit denen wir uns durch den Alltag klicken. Es gibt immer noch und über allem einen Körper, der zugleich Filter und Katalysator für unseren Geist ist. Ohne den Körper geht nichts und wir sind nichts ohne Körper. Das stelle ich bei Kilometer 6.4 fest. Es gibt ein körperliches „Deep Learning“, das weit mehr umfasst als all die die neuronalen Netze maschineller Intelligenzen von Siri bis zu IBM Watson vermögen. Zumindest bis auf Weiteres.
Meine Erkenntnis nach rund einer Stunde Laufen heute lautet deshalb: Der digitalen Vernunft keine Allmacht erteilen (denn der Schlaf der digitalen Vernunft gebiert Ungeheuer, frei nach Goya). Kritisch bleiben. Die eigene Wahrnehmung wahrnehmen, der eigenen Intuition mehr vertrauen als den Berechnungen von Google, Facebook und Co. Und immer wieder die Frage nach dem stellen, was nicht programmiert, nicht kodiert und nicht gesteuert werden kann. Computer haben keinen Geist! Und, vor allem Computer haben (noch) keinen Körper!