Das Schiff nach Lamma Island startet vom Fischmarkt in Aberdeen. Das ist da, wo Hongkong noch ein bisschen so aussieht, wie man sich das als europäischer Tourist gern vorstellt: klapprige Dschunken tuckern übers Wasser, dazwischen patinabeseelte Hausboote, zusammengezimmert aus tausenden Einzelteilen und so ineinanderverwachsen, dass kaum mehr erkennbar ist, wo eins endet und das andere anfängt. Dahinter stinkende Fischhallen mit Wellblechdächern, Männer mit freiem Oberkörper und langen Gummistiefeln, die durch wadenhohes Wasser waten, das in Strömen aus den Kühltanks fließt. In den Tanks zappeln sich Fische aller Formen und Farben ihrer letzten Stunde entgegen, auf den Märkten und in den Restaurants der Metropole.
Unser Schiff entspricht dem Bild: es ist ein ziemlich alter und ziemlich klapprig wirkender Kahn mit zwei Etagen. Oben und ganz hinten lässt sich am besten beobachten, wie die Kulisse der Hochhäuser von Aberdeen langsam in der dunstigen Schwüle verschwindet und eine frische Brise vom offenen Meer die schweißnasse Haut trocken bläst.
Kaum 30 Minuten und ein kreuzendes Containerschiff-Monster später erreichen wir Mo Tat Wan, eine winzige Siedlung und eine der Anlegestellen auf Lamma Island.
Mit uns steigen ein paar Angler, ein Touristenpaar und drei alte Mütterchen aus, die sich ziemlich zielstrebig und behende auf einen kleinen Pfad begeben, der sich den kleinen Hügel hinauf in den Dschungel schlängelt.
Ja, tatsächlich hat die Vegetation alles, was einen Dschungel landläufig ausmacht: schwüle Hitze ringsum, schattenspendende tropische Hölzer, lustvoll schwingende Lianen, Bananenstauden, Feigenbäume und Palmen, Orchideen und plätschernde Bächlein – nicht zu vergessen all die lautlos um uns flatternden Schmetterlinge mit filigranen Mustern in allen möglichen Farben. Die Lautlosigkeit kann man hier tatsächlich hören, denn es gibt keine Autos auf der ganzen Insel! Also kaum Lärm, sieht man einmal von den Stimmen der Wildnis und der Handvoll Touristen ab, die im Laufe des Tages unseren Weg kreuzen. Trotzdem hat unser Ausflug nichts von den Strapazen des Urwalds. Eher ähnelt er einem Spaziergang am Stadtrand, denn es gibt überall betonierte Pfade und Schilder, die uns den Weg weisen und für die Sicherheit bei Nacht gibt es flächendeckende Straßenbeleuchtung.
Immer wieder stoßen wir auf verlassene Siedlungen oder besser: verlassen wirkende Siedlungen, denn wenn man genauer hinsieht, weist ein akkurat angelegtes Gemüsebeet oder auf einer Leine im Wind wehende Wäsche doch auf Bewohner hin. Und an der nächsten Ecke steht immer irgendein Müllcontainer der Stadtreinigung Hongkong inklusive Infos über die nächste Leerung.
Kaum sechs Meilen vor Hongkong gelegen, ist Lamma Island eine sehr merkwürdige Mischung aus Wildnis und Suburbia, aus Geisterstadt und beschaulichem Landleben: eine Mischung, die ich aus Europa so nicht kenne. Sicher, die Exotik der Landschaft trägt ihren Teil dazu bei. Aber es ist mehr als das. Wahrscheinlich ist es einfach dieses unkommentierte und unkontrollierte Nebeneinander von Gegensätzen, eine Gleich-Gültigkeit der Dinge, die einen ganz eigenen Charme entwickelt.
Verlassene kleine Siedlungen neben offensichtlich schnell aus dem Boden gestampften Neubauten, wilde und unberührte Natur neben mit Müll übersäten Stränden, an denen der pazifische Plastikstrudel mal kurz entlanggeschrammt zu sein scheint.
Wenn man aufs Meer schaut, dann sieht man immer eine ganze Reihe von riesigen Frachtschiffen. Sie warten auf ihre Einfuhrerlaubnis in den Hafen von Hongkong und treiben stundenlang reglos auf dem Wasser wie träge Wale. Ganz weit hinten sieht man Hongkong mit seinen Bürohäusern und Wohntürmen, die aus der Distanz wie eigenwillige geometrische Felsformationen aussehen.
Und im Vordergrund liegen Strände, die sind menschenleer, haben aber – Ordnung muss sein – alle ihren Life Guard positioniert, der auf seinem Betonsockel thront und den Horizont nach Haifischflossen absucht. Es gibt die Alten, die es nicht geschafft haben, in den New Territories Arbeit zu finden, und es gibt die jüngere Middleclass, die sich eine Wohnung auf Hongkong Island nicht mehr leisten kann und deswegen jeden Tag per Schiff zwischen Wohnung und Arbeitsplatz hin und herfährt. Bei einem Ticketpreis von umgerechnet 1,20€ dürften zumindest die Fahrtkosten auch kein Problem sein.
Tatsächlich achtet die Hongkonger Regierung sehr darauf, dass diese Inseln nicht verwahrlosen. Es gibt Personal, das sich um den Erhalt der Wege kümmert und die Infrastruktur am Leben erhält. Auch die Pflege und der Schutz der Natur gehören zu den Aufgabenfeldern der städtischen Verwaltung. Zum Beispiel die Turtle Bay, eine traumhafte Bucht auf Lamma Island, die einmal im Jahr zum Brutplatz einer seltenen Wasserschildkrötenart wird. Zwischen April und Oktober ist diese Bucht deshalb tabu für Touristen. Überall aufgestellte Hinweisschilder drohen mit einer Geldbuße von 50.000 HK$ bei Verstoß. Als wir dort ankamen, trafen wir auf vier Gestalten, die aussahen, wie aus David Lynchs Elephant Man. Bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, dass es sich um Park Ranger handelte, die sich zum Schutz gegen die Sonne mit einer grauen Plastikplane eine Art Ganzkörpervermummung verpasst hatten und damit beschäftigt waren, den Sandboden von heruntergebrochenen Ästen und verwehtem Müll zu beseitigen. Zusammen mit dem draußen in der Bucht vor Anker liegenden Schiff ergab sich das Bild einer kleinen mobilen Forschungseinheit.
Beim Weiterwandern am Strand stolpern wir noch über eine riesige weiße Masse aus einem Material, das aussah wie erstarrtes Wachs oder Silicon. Vielleicht hatte ja jemand eine monumentale Kerze für die Schildkröten angezündet? Vielleicht versammelt sich dort jede Nacht der Ältestenrat der Batagurschildkröten, um Prognosen über die Entwicklung des Homo sapiens abzugeben… ? Oder stammte die weiße Plastik-Pfütze von irgendeinem Kapitän, der sich auf seinem Riesenfrachter draußen auf dem Meer gelangweilt hatte und auf die Insel gekommen war, um bei Kerzenschein mit ein paar Meerfungfrauen zu tanzen?
Sehr schön ist, dass einem nach einigen Stunden auf der Insel solche nonsense-Geschichten einfallen. Das vollgepackte Hirn fährt runter und macht Platz für freies Assoziieren. Ping und Pong. Natur und Müll, Zivilisation und krakelige Wurzeln, Plastikbecher und tanzende Schmetterlinge, dunstige Umrisse von Frachtern am Horizont und tote Fische auf dem Weg. Weil nichts ins Bild passen musst, passt irgendwie alles. Auch das etwas runtergekommene Restaurant, in dem wir abends superlecker Fisch essen, natürlich inklusive Sonnenuntergang und Blue Girl Bier, um dann mitten in der Nacht mit dem Kahn wieder der Glitzerkulisse Hongkongs entgegenzuschaukeln.
Paula Schmidt-Dudek
23. Oktober 2017 — 10:02
Ich genieße und liebe Eure Berichte
Anja
23. Oktober 2017 — 13:49
Wie schön, das freut uns!
Heiko
24. Oktober 2017 — 11:26
Schön, dass wir so hautnah miterleben und mitreisen dürfen. Eure Berichte und Fotos sind toll und machen Lust auf mehr …
Anja
24. Oktober 2017 — 18:04
Wir geben unser Bestes! 🙂🙂🙂
Frieder
Henner
2. Juli 2020 — 10:10
Hab mich richtig festgelesen – tolle Schreibe. Jetzt weiß ich, wo es steht und bin ein Follower 😎
Viele Grüße!